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Gotteszahl

Gotteszahl

Titel: Gotteszahl
Autoren: Anne Holt
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Das unsichtbare Kind
    Es war die zwanzigste Nacht im Dezember.
    Einer dieser Samstagabende, die so viel versprechen, was sie niemals halten, war fast unmerklich in den letzten Adventssonntag übergegangen. Die Menschen schwankten noch immer von einem Lokal zum anderen, während sie den heftigen Schneefall verfluchten, der einige Stunden zuvor über Oslo hereingebrochen war. Die Temperatur war danach auf drei Grad über null geklettert, und alles, was noch an Weihnachtsstimmung erinnerte, war grauer Matsch auf Eisbuckeln neben Seen aus geschmolzenem Schnee.
    Mitten in der Stortingsgata stand ein Kind.
    Es war barfuß.
    »Haltet in den dunklen Tagen«, sang die Kleine zaghaft, »euer Herz bereit …«
    Ihr Nachthemd war hellgelb und auf der Brust mit Marienkäfern bestickt. Die Waden, die unter dem Hemd hervorsahen, waren dünn wie Essstäbchen, und ihre Füße bohrten sich in den Matsch. Das schmächtige, halbnackte Kind war in diesem nächtlichen Stadtbild dermaßen fehl am Platze, dass niemand es bisher auch nur bemerkt hatte. Die Saison der Weihnachtsfeiern näherte sich dem Höhepunkt, und alle waren mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Ein halbnacktes, summendes Kind auf einer Hauptstadtstraße mitten in der Nacht wurde einfach unsichtbar, wie in einem der Bücher, die die Kleine zu Hause hatte, wo Tiere aus Afrika sorgfältig in Zeichnungen von norwegischen Landschaften versteckt waren, hinter Rinde und Laub kaum zu entdecken, wenn man sich dort nicht auskannte.
    » … Tannen werden Lichter tragen …«
    Alle waren unterwegs, um sich zu amüsieren, was nur den wenigsten gelang. Vor dem Laden von Juwelier Langgaard stützte sich eine Frau an das Panzerglas und starrte ihr Erbrochenes an. Unverdaute tiefrote Himbeersoße zwischen Resten von Schweinerippe und Frikadellen, Schneematsch und Streusand. Eine Bande junger Männer johlte auf der anderen Straßenseite Schmählieder auf die Kotzerin. Sie zogen einen abgestürzten Kollegen zwischen sich am Nationaltheater vorbei, ohne darauf zu achten, dass der nur noch einen Schuh anhatte. Vor jedem Lokal drängten sich die Raucher fröstelnd im kalten Wind. Durch die Straßen zog eine salzige Brise vom Fjord her und mischte sich mit dem Geruch von brennendem Tabak, Schnaps und Parfüm, dem Geruch einer norwegischen Großstadt in einer Nacht kurz vor Weihnachten.
    Aber niemand bemerkte das kleine Mädchen, das so leise auf der Straße sang, zwischen zwei silbrig schimmernden Straßenbahnschienen.
    »… und die leuchten … und die leuchten …«
    Sie kam nicht weiter.
    »… und die leuchten …«
    Eine Straßenbahn der Linie 19 riss sich von der Haltestelle hundert Meter weiter in Richtung Schloss los. Wie ein bleischwerer Schlitten voller Menschen, die nicht so genau wussten, wohin sie wollten, fuhr sie langsam den Hang zum Hotel Continental hinab. Einige Fahrgäste wussten kaum noch, wo sie gewesen waren. Sie schliefen. Andere tuschelten über ein mögliches Nachglühen, mehr zu trinken und mehr Frauen, bei denen sie ihr Glück versuchen könnten, ehe es zu spät wäre. Viele starrten nur in die kompakte Wärme, die sich als feuchte Undurchdringlichkeit auf die Fensterscheiben legte.
    Ein Mann am Eingang zum Theatercafé hob den Blick von den teuren Schuhen, die er für diesen Abend in der Annahme gewählt hatte, der Schnee würde noch auf sich warten lassen. Seine Füße waren nass, und die Streusalzstreifen würden sich nur mit Mühe entfernen lassen, wenn die Schuhe überhaupt je trockneten.
    Er war der Einzige, der das Kind sah.
    Sein Mund öffnete sich zu einem Warnruf. Ehe er Atem holen konnte, versetzte ihm jemand einen Stoß in den Rücken, und er hatte zu tun, sich auf den Beinen zu halten.
    »Kristiane! Kristiane!«
    Eine Frau in norwegischer Tracht stolperte über ihren voluminösen Rock. Instinktiv klammerte sie sich an den Mann mit den ruinierten Enzo-Poli-Schuhen. Er hatte das Gleichgewicht noch nicht wiedergefunden. Beide gingen zu Boden.
    »Kristiane«, schrie die Frau und versuchte, sich aufzurappeln.
    Die Straßenbahn bimmelte aufgeregt.
    Der Fahrer, der kurz vor dem Ende einer anstrengenden Doppelschicht stand, hatte das Mädchen endlich entdeckt. Metall kreischte auf Metall, als er bremste, so gut das auf den vereisten Schienen möglich war.
    »Und die leuchten weit ….«, sang Kristiane.
    Die Straßenbahn war nur noch sechs Meter von ihr entfernt und fuhr immer noch, als die Mutter endlich mit zerrissenem Rock auf die Straße
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