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Gotteszahl

Gotteszahl

Titel: Gotteszahl
Autoren: Anne Holt
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Mann kam aus dem ersten Stock heruntergerannt. »Was ist passiert? Was ist … Ist alles in Ordnung mit ihr? Mit dir?«
    Yngvar Stubø versuchte, seine Frau aufzuhalten.
    Sie fauchte: »Idiotische Idee! Mit dem Taxi wären wir in zehn Minuten zu Hause! In zehn Minuten!«
    »Was ist idiotisch? Was sollen wir … Lass mich sie tragen, Inger Johanne. Dein Kleid ist ruiniert, und es wäre …«
    »Das ist kein Kleid! Das ist eine Tracht! Und es war deine Idee! Diese entsetzliche Frisur und dieses Hotel und dass Kristiane mitkommt. Es hätte ihr Tod sein können!«
    Sie wurde von Tränen überwältigt und ließ das Kind endlich los.
    Der Mann mit den langen Armen umfasste die Kleine behutsam, und zusammen stiegen sie die Treppe hinauf.
    Kristiane sang noch immer, mit zarter, glockenheller Stimme: »Engel denen sich dann zeigen, die noch einsam sind.«
    »Sie schläft, Inger Johanne. Der Arzt hat gesagt, dass es ihr gut geht. Es gibt keinen Grund, jetzt nach Hause zu fahren. Es ist …«
    Der Mann warf einen Blick auf den stummen Fernsehapparat, wo das Hotel noch immer Mrs. and Mr. Yngvar Stubø willkommen hieß.
    »Viertel nach drei. Es ist bald halb vier, Inger Johanne.«
    »Ich will nach Hause.«
    »Aber …«
    »Wir hätten nie auf diesen Vorschlag eingehen dürfen. Kristiane ist zu klein.«
    »Sie ist fast vierzehn«, sagte Yngvar und rieb sich mit den Händen übers Gesicht. »Dass eine Vierzehnjährige an der Hochzeit ihrer Tante teilnehmen darf, kann man wohl nicht als ungewöhnlich bezeichnen. Es war außerdem sehr großzügig von deiner Schwester, uns eine Suite und die Kinderbetreuung zu spendieren.«
    »Schöne Kinderbetreuung!«
    Sie fauchte diese Worte regelrecht.
    »Albertine ist eingenickt«, sagte Yngvar resigniert. »Sie hat sich aufs Sofa gelegt, als Kristiane endlich eingeschlafen war. Was hätte sie denn sonst tun sollen? Dazu war sie doch hier, Inger Johanne. Kristiane kennt Albertine gut. Und die hat getan, worum wir sie gebeten haben, mehr hätten wir nicht verlangen können. Sie ist nach dem Dessert mit Kristiane aufs Zimmer gegangen. Es war ein Missgeschick, und das musst du akzeptieren.«
    »Missgeschick? Ist es ein Missgeschick, wenn ein Kind wie … wie Kristiane unbemerkt aus einem Hotel weglaufen kann? Dass die Babysitterin, die Kristiane übrigens nur so gut kennt, dass sie immer noch ›Dame‹ zu ihr sagt, so tief schläft, dass Kristiane sie für tot hält! Dass das Kind durch ein überfülltes Haus irrt! Ein Haus voller angetrunkener Menschen! Und dass es danach mitten in der Nacht auf die Straße gerät, ohne Kleider und Schuhe und ohne …«
    Sie schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte laut.
    Yngvar ließ sich neben ihr auf die Bettkante sinken. »Können wir nicht einfach schlafen gehen?«, sagte er leise. »Morgen sieht alles besser aus. Es ist doch trotz allem gut gegangen. Wir wollen uns darüber freuen. Und schlafen.«
    Sie gab keine Antwort. Ihr gekrümmter Rücken bebte bei jedem Atemzug.
    »Mama.«
    Schnell trocknete Inger Johanne ihre Tränen und drehte sich mit strahlendem Lächeln zu ihrer Tochter um. »Ja, mein Herzchen?«
    »Manchmal bin ich einfach unsichtbar.«
    Vom Gang her hörte man Kichern und Lachen. Jemand brüllte »Prost«, und eine Männerstimme fragte, wo der Eiswürfelspender stehe.
    Inger Johanne legte sich vorsichtig aufs Bett. Sie streichelte die dünnen blonden Haare der Kleinen und hielt den Mund dicht an ihr Ohr. »Nicht für mich, Kristiane. Für mich bist du niemals unsichtbar.«
    »Doch«, sagte Kristiane und lachte kurz. »Für dich auch. Ich bin das unsichtbare Kind.«
    Ehe die Mutter protestieren konnte, und während die Rathausglocken erklärten, dass abermals eine halbe Stunde an diesem einundzwanzigsten Tag im Dezember vergangen war, schlief Kristiane schon fest.

Ein Zimmer mit Aussicht
    Als die Rathausglocken halb vier schlugen, sagte er sich, dass es jetzt genug sei.
    Er stand am Fenster und blickte auf das hinaus, was dort zu sehen war.
    Es war nicht gerade viel.
    Vor zehn Stunden war dichter Schnee über Oslo gefallen und hatte die Stadt hell werden lassen. In der Stille des Büros hatte er sich so sehr auf seine Arbeit konzentriert, dass er den Wetterumschwung nicht bemerkt hatte. Die Stadt lag fast konturlos unter ihm. Es regnete nicht, aber die Luftfeuchtigkeit war so hoch, dass dicke Tropfen am Fenster hinabrannen. Die Festung Akershus war auf der anderen Seite des Hafenbeckens nur als Schatten zu ahnen. Die grauen, trägen
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