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Gotteszahl

Gotteszahl

Titel: Gotteszahl
Autoren: Anne Holt
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Mann als ein Junge, das sieht sie jetzt, und seine Haare sind ungepflegt. Er kann sie seit einer Ewigkeit nicht mehr geschnitten haben, und sie weicht zurück.
    »Fürchte dich nicht«, sagt er und streckt die Arme aus, hält die Handflächen vor ihr in die Höhe. »Ich will nur mit dir reden.«
    Als er ihr eine Hand hinhält, nimmt sie sie.
    Sie weiß nicht, warum, aber sie nimmt die Hand dieses fremden Mannes und geht mit ihm in den Wald. Sie schlendern zwischen den Bäumen weiter, waten durch Gold und Huflattich bis zu einer kleinen Lichtung, wo die Sonne wärmt. Er setzt sich mit dem Rücken vor einen Baumstamm und klopft kurz neben sich auf den Boden.
    Der Mann trägt blaue Jeans und ein weißes Hemd ohne Kragen. Seine nackten Füße stecken in Sandalen mit Lederschlupf für einen Zeh, wie ihr Vater sie hat, die immer erst in den Sommerferien aus dem Schrank geholt werden. Der Fremde spricht wie ein Bergenser, ist aber anders als alle, die ihr jemals begegnet sind.
    Eva Karin setzt sich. Die Sonne überschüttet sie mit ihrer Wärme, das Licht strahlt. Sie schaut mit zusammengekniffenen Augen zum Himmel hoch.
    »Tu das nicht«, sagt der Mann mit den eisblauen Augen.
    »Ich muss«, sagt Eva Karin.
    »Du sollst das nicht tun«, sagt er und öffnet ihre Tasche.
    Sie lässt einen fremden Erwachsenen ihre Tasche öffnen und die Rasierklinge herausnehmen, die sie in einem Riss im Futter verborgen hat. Er legt sie über eine Narbe in seiner Handfläche und schließt die Hand.
    »Schau her«, sagt er lächelnd und öffnet langsam die Faust, mit der Handfläche nach oben.
    Die Rasierklinge ist verschwunden.
    Sein Lachen kommt jetzt von überall her, es ist Windesrauschen und Vogelsang. Er lacht so sehr, dass sie lächeln muss, und als er das sieht, klatscht er leise in die Hände.
    »Ich liebe meine Zauberkünste«, sagt er.
    Eva Karin ruht. Schläft fast ein.
    »Das Leben ist unantastbar«, sagt der Mann. »Das darfst du nie vergessen.«
    »Meins nicht«, sagt sie mit geschlossenen Augen. »Ich bin eine … Sünderin.«
    Sie zögert, ehe sie ein solches Wort ausspricht. Es ist zu feierlich. Es passt nicht in ihren Mund, es ist zu groß und zu erwachsen. Und sie ist erst sechzehn.
    »Sünder sind wir alle«, sagt er gelassen. »Aber ich will nicht, dass deshalb die ganze Stadt auf die sieben Berge rennt und sich das Leben nimmt.«
    »Ich … liebe ein anderes Mädchen.«
    Wieder ein Wort, das zu groß für sie ist. Liebe ist ein Wort für die Dunkelheit, es muss geflüstert werden, fast unhörbar.
    »Und das Größte von allem ist die Liebe«, sagt er lächelnd. Und um sie herum fängt der Wald wieder an zu lachen. »Wenn ich mir das so überlege, habe ich niemals ein wahreres Wort gesagt.«
    Seine Hand streift ihr Knie. Die Hand ist schwer und leicht zugleich. Warm und kalt und etwas, wofür sie kein Wort hat.
    »Hör auf mich«, sagt er und ist plötzlich ernst. »Nicht auf alle, die glauben, mich zu kennen.«
    »Ich habe gelesen und gelesen«, flüstert Eva Karin. »Aber ich finde keinen Trost.«
    »Hör auf das, was ich sage. Nicht darauf, was ich angeblich gesagt habe.«
    Er erhebt sich, kniet dann nieder und dreht sich zu ihr. Sein Gesicht liegt in der Sonne und wird zu einer schwarzen Silhouette, umhüllt von einem so starken Licht, dass Eva Karin die Augen schließt.  Wieder nimmt sie die schwere Leichtigkeit seiner Hände wahr, als er sie um ihre faltet.
    »Ich bin nicht streng, Eva Karin. Mein Vater kann zwar ein wenig eigen und donnerschwer sein, aber ich habe zu viel erlebt, um Liebe zu verurteilen.«
    Sie sieht ihn nicht, hört aber sein Lächeln.
    »Ich verurteile Bosheit. Finsternis. Niemals Licht und Liebe.«
    »Aber ich …«
    »Sei wahr zu dir und wahr zu mir.«
    »Wie soll ich …«
    »Ich kann dir kein Rezept für das Leben geben, Eva Karin. Aber du wirst eine Lösung finden. Und wenn du stolperst und fällst, zweifelst und dich fürchtest, dann wende dich einfach an mich. Ich höre dich schon seit einer ganzen Weile, weißt du. Ich musste nur auf den richtigen Augenblick warten.«
    Er steht auf und tritt einen Schritt zur Seite. Wieder spült die Sonnenwärme über Eva Karin hinweg. Sie legt die rechte Hand an ihre Stirn und schaut hoch.
    »Du darfst deine eigene Liebesfähigkeit nicht verraten«, sagt er und geht los. »Und vor allem. Wende nicht den Maßstab anderer Menschen auf dein Leben an.«
    Auf der Mitte der kleinen Lichtung dreht er sich noch einmal zu ihr um. »Nur eins muss dir heilig
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