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Gotteszahl

Gotteszahl

Titel: Gotteszahl
Autoren: Anne Holt
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aufgestanden ist. Die Mutter war böse, es sollte für den Nationalfeiertag aufbewahrt werden. Eva Karin wollte nicht zu spät in die Schule kommen, sagte sie, und sie habe keine Zeit, sich umzuziehen. Die Mutter gab sich geschlagen. Sie war auch ein wenig stolz, das konnte Eva Karin sehen. Die dunkeläugige schwarzhaarige Eva Karin in dem eisblauen Kleid, das sie amerikanisch aussehen ließ.
    Die Ballerinaschuhe hatte sie in der Schultasche versteckt und würde sie anziehen, sowie die Mutter sie nicht mehr sehen könnte.
    Eva Karin hat sich zum Sterben schön gemacht.
    Sie will nicht, dass jemand, der sie kennt, sie als Tote findet. Sie will hinauf zum Løvstakken, ganz nach oben, ihre jüngeren Geschwister sind zu klein, um dort hinaufzugehen, und ihre Eltern setzen niemals einen Fuß dorthin.
    Die Luft ist scharf und klar.
    Eva Karin will an Gott glauben.
    Sie hat gebetet.
    Sie hat in Seinem Buch gelesen, das sie in der Schublade mit der Unterwäsche verstecken muss, damit der Vater es nicht findet. Religion ist Opium für das Volk, schimpft der Vater immer wieder, und Eva Karin und ihre Geschwister sind die Einzigen, die sie kennt, die nicht getauft und konfirmiert sind. Sie hat viel in der verbotenen Bibel gelesen, aber sie findet nur Verdammnis. Gott und ihr Vater sind nur in einem Punkt einer Ansicht: Solche wie sie haben kein Lebensrecht.
    Solche wie sie müssen mit einer eigenen Sprache bezeichnet werden. Einer ganz eigenen Sprache aus Blicken, Gesten und Wörtern, die eigentlich etwas anderes bedeuten, die aber für solche wie sie verwendet werden und dann eine düstere Bedeutung annehmen. Damit kann sie nicht leben.
    Nur Männer sind so, hat sie immer gedacht.
    Es gibt sie, das weiß sie, denn sie werden zum Objekt der doppelbödigen Reden, Blicke, der obszönen Gesten, die Jungen hinter dem Rücken von Studienrat Berstad machen, die die Mädchen zum Kichern bringen. Alle außer Eva Karin, die rot wird.
    Sie bleibt auf dem Weg stehen. Die Sonne strahlt durch das zarte Blattwerk. Der Boden scheint von zitterndem, flüssigem Gold bedeckt zu sein. Der Huflattich steht dicht an dicht um die Bäume, wie eine wärmende Decke über den Wurzeln. Die Vögel zwitschern, und hoch über den Baumwipfeln ziehen weiße Schönwetterwolken vorüber.
    Sie geht jetzt seit einem halben Jahr mit Erik.
    Erik ist lieb. Er fasst sie niemals an. Will sie nicht küssen, grabscht nicht an ihr herum, wie die anderen Jungen das bei Eva Karins Freundinnen tun. Erik liest Bücher und ist gut in der Schule. Sie trinken zusammen Tee, und Erik zeigt ihr Gedichte, die er geschrieben hat und die nicht besonders gut sind. Eva Karin fühlt sich wohl bei Erik. Geborgen. Bei Erik ist sie ruhig. Nicht wie dann, wenn sie sich mit Martine trifft.
    Unruhig geht sie weiter.
    Darf nicht an Martine denken. Darf nachts nicht Martine vor sich sehen, wenn sie beieinander übernachten und die Mütter nicht einmal anklopfen, ehe sie hereinkommen, um Gute Nacht zu sagen.
    Eva Karin hat gebetet und gebetet. Darum, von Martine befreit zu werden. Um die Kraft, sie nicht zu begehren. Eva Karin hat nächtelang auf Knien vor dem Bett gelegen, mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen. Niemand hat ihr geantwortet, nicht einmal dann, als sie auf Glasscherben gekniet hat. Martine ist bei Eva Karin, ob sie nun da ist oder nicht, und sie verschwindet niemals. Eva Karin betet, bis sie vor Müdigkeit bewusstlos wird, aber nirgendwo gibt es jemanden, der antwortet. Vielleicht hat Vater doch recht, so wie er recht damit hat, dass solche wie sie widerwärtig sind.
    Er und die Mutter dürfen es niemals erfahren, denkt Eva Karin und stolpert schneller den Weg hoch. Der Vater, der ihr vorgesungen hat, der mit ihr gespielt und in seiner Werkstatt einen Puppenwagen für sie gebaut hat, als sie fünf war, der Vater, der sie mit Hurrarufen am 1. Mai auf seine Schultern gesetzt hat und mit ihr zur Demonstration gegangen ist, bis sie zu schwer wurde und stattdessen die Gewerkschaftsfahne tragen durfte. Ihr Vater soll nie erfahren, dass sein eigenes kleines Mädchen so ist.
    So.
    Eva Karin ist so.
    Eva Karin will sterben, und sie hat eine Rasierklinge ihres Vaters in der Tasche.
    Ein Junge kommt zwischen den Bäumen auf sie zu. Nicht auf dem Weg, wie sie. Er taucht von der Seite her auf, sie wendet sich ab, niemand soll ihre Tränen sehen, und schon gar nicht jetzt, so kurz vor ihrem Tod. Eva Karin geht schneller.
    Plötzlich steht er vor ihr.
    Er lächelt.
    Es ist eher ein
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