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Gotteszahl

Gotteszahl

Titel: Gotteszahl
Autoren: Anne Holt
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stolperte und wieder schrie: »Kristiane!«
    Später würden einige behaupten, der Mann, der aus dem großen Nichts aufgetaucht war, habe Ähnlichkeit mit Batman gehabt. Das musste aber an seinem weiten Umhang liegen, denn der Mann war klein, leicht übergewichtig und hatte eine Glatze. Da aller Augen auf das Kind und die verzweifelte Mutter gerichtet waren, registrierte niemand so genau, wie der Mann mit bemerkenswerter Geschmeidigkeit vor die fahrende Bahn sprang und das Kind mit einer Hand an sich riss. Er hatte die Schienen gerade erst wieder verlassen, als die Straßenbahn langsam über die Stelle fuhr, an der die Kleine gestanden hatte, und endlich zum Halten kam. Ein abgerissener Fetzen seines dunklen Umhangs hing am Stoßdämpfer der Bahn und bewegte sich im Wind.
    Die Stadt atmete erleichtert auf.
    Kein Auto war zu hören, Lachen und Rufe erstarben. Die Straßenbahnklingel verstummte. Alle standen da, als könnten sie nicht so ganz glauben, dass es gut gegangen war. Der Straßenbahnfahrer saß wie erstarrt auf seinem Platz, die Hände vor die Stirn geschlagen, die Augen aufgerissen. Sogar die Mutter der Kleinen stand wie festgefroren einige Meter von ihr entfernt, in zerrissenem Festgewand und mit unbeholfen herabhängenden Armen.
    »Leuchten in der Nächte Schweigen …«, sang Kristiane weiter, ohne den Mann anzusehen, der sie hielt.
    Jemand fing vorsichtig an zu applaudieren. Andere schlossen sich an. Der Applaus wurde lauter, und die Frau in der Tracht schien plötzlich zu erwachen.
    »Mein Kind«, schrie sie, lief die wenigen Schritte zu ihrer Tochter und riss sie an sich. »Das darfst du nie wieder tun! Du musst Mama versprechen, das niemals wieder zu tun!«
    Inger Johanne Vik hob den einen Arm, ohne zu überlegen und ohne den Griff um ihr Kind zu lockern. Der Mann verzog keine Miene, als ihre Handfläche ihn hart auf der Wange traf. Er deutete ein Grinsen an, verbeugte sich tief zu einem altmodischen Abschiedsgruß, drehte sich um und war verschwunden.
    »Und im kalten Wind«, sang das Kind, »werden denen sich einst zeigen, die noch einsam sind.«
    »Ist das gut gegangen? Alles in Ordnung?«
    Immer mehr festlich gekleidete Menschen strömten aus dem Continental. Alle redeten wild durcheinander. Alle begriffen, dass etwas passiert war, aber nur die wenigsten wussten, was. Es hieß, jemand sei überfahren worden, andere behaupteten, die kleine Kristiane habe entführt werden sollen, die seltsame junge Nichte der Braut.
    »Meine Schöne«, weinte die Mutter. »Das darfst du doch nicht tun!«
    »Die Dame war tot«, sagte Kristiane. »Ich friere.«
    »Natürlich frierst du.«
    Die Mutter ging auf das Hotel zu, mit kleinen, starren Schritten, um nicht zu fallen. In der Türöffnung stand die Braut. Das trägerlose Oberteil ihres Kleides war mit schimmernden Pailletten besetzt. Schwere Seide fiel in Falten über die schmalen Hüften bis zu ihren Füßen, wo die bestickten Schuhe noch immer leuchtend weiß waren. Als Hauptperson des Abends war sie so schön, wie sich das gehört, tadellos geschminkt, das Haar ebenso perfekt hochgesteckt wie zu Beginn des Hochzeitsschmauses vor vielen Stunden. Die glühenden nackten Schultern mochten andeuten, dass sie die Hochzeitsnacht schon vorgezogen hatte. Sie schien nicht einmal zu frieren.
    »Wie geht es dir denn?«, fragte sie lächelnd und streichelte die Wange der Nichte, als ihre Schwester an ihr vorüberging.
    »Meine Tante«, sagte Kristiane und lächelte zurück. »Tante Braut. Du bist aber schön!«
    »Was man von deiner Mutter nicht sagen kann«, murmelte die Braut.
    Nur Kristiane hatte sie gehört. Inger Johanne würdigte ihre Schwester keines Blickes. Sie stapfte weiter, in die Wärme, sie wollte auf ihr Zimmer, unter die Decke mit ihrer Tochter, vielleicht ein heißes Bad nehmen, ihr Kind war eiskalt und musste so rasch wie möglich aufgetaut werden. Sie stolperte und bekam kaum Luft. Obwohl die bald vierzehn Jahre alte Kristiane nicht mehr wog als eine Zehnjährige, drohte die Mutter unter ihrem Gewicht zusammenzubrechen. Der Trachtenrock hing außerdem so schief, dass sie bei jedem zweiten Schritt auf den Saum trat. Die zum Kranz geflochtenen Haare hatten sich gelöst. Die Frisur war Yngvars Idee gewesen, und sie war in den Stunden vor der Trauung so durcheinander gewesen, dass sie darauf eingegangen war. Nur einige Minuten nach Festbeginn hatte sie sich schon wie Brünhilde in einer Inszenierung aus der Zwischenkriegszeit gefühlt.
    Ein hochgewachsener
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