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Glutnester

Glutnester

Titel: Glutnester
Autoren: Gabriele Diechler
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1. Kapitel
    Elsa tritt aus dem Gerichtsgebäude und lässt den Blick ziellos umherschweifen. Auf die graubraunen Fassaden der Häuser, die schwarzsilberne Einheitsfläche fahrender, stockender und hektisch einparkender Autos, schließlich nach oben, wo seichte gelb gefärbte Wolken am babyblauen Himmel ruhen. Ein welker, unbeweglicher Himmel, der der Hast der Stadt zu trotzen scheint. Dazu eine Brise bärbeißigen Geruchs nach etwas Undefinierbarem. Der Geruch sucht zwischen den Straßen und in Elsas Nase nach einem Zuhause. Elsa niest, schüttelt den Kopf und murmelt dann: »Das Leben beginnt an beliebiger Stelle« vor sich hin. Ihr Statement des Tages. Sie hat diesen Satz irgendwann einmal aufgeschnappt. Kaum verstanden, aber immerhin behalten. Man behält, woran man sich noch die Zähne ausbeißt, weiß Elsa. Der Satz, dass das Leben nicht an besonderer, sondern an irgendeiner Stelle anfängt, tröstet. Zumindest einen kurzen Moment lang. Heute, am Tag ihrer Scheidung, versteht sie plötzlich, was er bedeutet. Ihr bisheriges Leben lang hat Elsa dieses als eine Abfolge einzelner Begebenheiten, die letztendlich in ein Ganzes münden, betrachtet. Eine Wegstrecke, die irgendwann beginnt, andauert und einmal endet. Doch wenn es so ist, dass das Leben an beliebiger Stelle beginnt, kann es nur so gemeint sein, dass immer nur der jeweilige Moment das Leben ist. Das einzige Leben, das man hat. Also ist Leben nicht die lange Wegstrecke, das große Insgesamt, sondern ein flüchtiger Moment. Und mit einem Moment, der frei von der Schwere des Gestern und der Unwägbarkeit des Morgen ist – denn sonst wäre es ja kein Moment mehr! – wird wohl klarzukommen sein, durchzuckt es Elsa. Kaum zu Ende gedacht, sonnt sie sich in ihrer neuen Leichtigkeit. Jubelt innerlich und saugt die Luft ein, die wie Sekt schmeckt. Bis ihr ein weiterer Gedanke einen Strich durch die Rechnung macht.
    Ihre beruflichen Erfolge, das passable Verhältnis zu Anna, ihrer pubertierenden Tochter, alles, worauf sie stolz ist, kann ihr mit einem Mal gestohlen bleiben. Nichts täuscht über das Zugeständnis hinweg, das sie diesem Augenblick entgegenbringt. Dem des Scheiterns. Geschieden! Endgültig einen Schlussstrich unter ein privates Dilemma gezogen. Eine Geschichte, die damit endet, dass ein Mann, der mit zwei Frauen rummachte, einer überlassen wird. »Du bist diejenige, die übrig bleibt«, murmelt Elsa, als müsse sie es sich erst wieder in Erinnerung rufen. Dabei ist diese Tatsache alles, was sie zurzeit weiß. Dass sie übrig bleibt.
    Die erfolgreiche Kriminalpsychologin mit einer in Rekordzeit absolvierten Zusatzausbildung in Grafologie, die Köln fluchtartig verließ, um in Oberbayern, in der Einöde, neu zu starten, bleibt allein zurück. Elsa schüttelt den Kopf, hebt das rechte Bein, zögert und belässt es für einen Moment in der Luft. So steht sie da wie eine Schauspielerin, die auf die nächste Anweisung des Regisseurs wartet.
    Hartmut ist von hinten auf sie zugekommen. Drängt sich, an einem Einsneunzig-Riesen vorbei, neben sie. Er schmiegt seine Hände in ihre Hüften. Ihr Bein tänzelt, aus ihren Augenwinkeln heraus betrachtet, durch ein weiter hinten wahrgenommenes Auto in Rot. Durchschneidet es und widmet sich zu guter Letzt einem anderen Bild. Der Schrittfolge eines älteren Mannes, der an ihnen vorbeispaziert und den ihr Bein stört. Erst danach, nach diesen Aktivitäten, kommt Elsas ungestümes Bein auf dem Asphalt zum Stehen. Sie positioniert sich. Atmet laut aus.
    »Zufrieden?«, raunt ihr Hartmut mit spitzem Unterton ins Ohr. Es klingt wie ein Verhör. Nicht wie eine Frage. Er hat sie zu sich umgedreht und schaut sie durchdringend an. Seine Augen huschen auf und ab. Ringen um Halt in ihrem Gesicht. Vergebens.
    »Und du!«, schießt Elsa zurück. Ihre Lippen verweigern selbst ein kühles Lächeln. Da ist nichts, was sich weich anfühlt. Alles rau und grob in ihr drin.
    »Von mir kam kein Impuls zur Scheidung!«, versucht Hartmut einzulenken. Als ginge das noch. Einlenken. Jetzt. Wo längst alle Nebenstraßen des Lebens gesperrt sind.
    »Als Richter weiß man schließlich, wie schmerzhaft so was ist. Das wollte ich uns ersparen. Dir, Anna, und mir natürlich auch.«
    »Das hättest du dir vorher überlegen müssen. Bevor du zwei Frauen flachlegst. Am selben Tag. Wohlgemerkt!« Elsa merkt, wie sich die Tatsache seines Seitensprungs plötzlich verwischt. Fast so, als kapsle sich der Schmerz ab, damit sich eine rigide Lust dazugesellen
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