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Gotteszahl

Gotteszahl

Titel: Gotteszahl
Autoren: Anne Holt
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gewesen. Er verdiente in einigen Wochen mehr als sein Großvater in einem langen Leben. Er ging trotzdem davon aus, dass beiden das Schenken die gleiche Freude machte und dass es auf die moralische Frage des Großvaters im Grunde keine Antwort gab.
    Das Teilen war für die beiden Marcus Kolls keine Frage edler Denkweise. Es ging einfach darum, mit dem eigenen Leben zufrieden zu sein. Und so, wie der Großvater sich die winzige Eitelkeit gestattet hatte, seinen Enkel wissen zu lassen, was er getan hatte, als alles zu Ende und die Diskussion im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode gelaufen war, führte der Jüngere ebenfalls sorgfältig Buch über seine Spenden. Sie wurden in aller Diskretion über Strohmänner vorgenommen, sodass es den Empfängern unmöglich war, den Absender ausfindig zu machen. Das Geld war ein Geschenk von ihm persönlich, nicht von seinen Firmen; es war als Einkommen gebucht, und er hatte Steuern dafür gezahlt, ehe er es auf Umwegen weiterleitete, die nur ihm selbst bekannt waren. Und niemand anders als der allerjüngste Marcus Koll, in zwei Monaten acht Jahre alt, sollte irgendwann erfahren, was der Vater eigentlich in der Nacht vor dem letzten Adventssonntag gemacht hatte, seit er fünfunddreißig Jahre alt gewesen war.
    Es gab ihm die Ruhe, die er brauchte.
    Sein Herz schlug zu rasch.
    Er lief im Zimmer auf und ab. Es war nicht sonderlich groß und es zeigte keine Spur von dem vielen Geld, das hinter dem alten Eichenschreibtisch verdient wurde. Marcus Koll sr. hatte sein Büro zwar auf Aker Brygge eingerichtet, vor zwei Finanzkrisen eine sehr gute Adresse, aber inzwischen hatte die Gegend an Ansehen verloren. Das kam ihm nur gelegen.
    Er griff sich an die Brust und versuchte, langsam zu atmen. Seine Lunge hatte ihren eigenen Willen, sie schnappte nach Luft, viel zu schnell, viel zu flach. Er stand wie angewurzelt da. Sich zu bewegen war unmöglich. Er würde jetzt sterben. Seine Fingerspitzen prickelten. Seine Lippen wurden taub, und die Betäubung im Mund ließ seine Zunge groß und trocken werden. Er musste durch die Nase atmen, aber seine Nase war dicht; er bekam keine Luft mehr und würde in wenigen Sekunden tot sein.
    Er sah sich so, wie er es gelesen und wie er es schon oft getan hatte. Er stand außerhalb seines eigenen Körpers, fast in der Vogelperspektive, und sah einen untersetzten Mann von einundvierzig mit Tränensäcken. Er konnte seine eigene Angst riechen.
    Ihm wurde ungeheuer heiß, und endlich konnte er sich losreißen. Er taumelte zum Schreibtisch und riss eine Papiertüte aus der obersten Schublade. Er knüllte die Öffnung mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand leicht zusammen, hielt dann die Tüte an den Mund und atmete so tief und rhythmisch, wie es ihm nur möglich war.
    Der metallische Geschmack in seinem Mund wollte nicht verschwinden.
    Er warf die Tüte weg und presste die Stirn ans Fenster.
    Nicht krank. Er war nicht krank. Sein Herz war ganz in Ordnung, auch wenn es unter dem linken Schulterblatt und im Arm stach, im linken Arm, wenn er nachfühlte. Nein. Dort gab es keinen Schmerz. Nicht nachfühlen.
    Atmen.
    Auf seinen Händen schien Ungeziefer zu krabbeln, und er wagte nicht, es abzuschütteln. Sein Kopf fühlte sich leicht und fremd an, gar nicht wie sein eigener. Die Gedanken wirbelten so rasch vorüber, dass er sie nicht erkannte. Bruchstücke von Bildern und Satzfetzen drehten sich immer schneller, ließen ihn schwanken. Er versuchte, sich an ein Rezept zu erinnern, an eine Pizza, eine Pizza mit Feta und Brokkoli, ein Rezept aus den USA, das er tausendmal nachgekocht hatte. Es gelang ihm nicht.
    Nicht krank. Keine Gehirnblutung. Keine Übelkeit. Er war gesund.
    Vielleicht war es Krebs. Es stach in der rechten Seite seines Körpers, der Leberseite, der Bauchspeicheldrüsenseite. Der Seite für Krebs und Krankheit und Tod.
    Langsam öffnete er die Augen. Ein Teil seines Bewusstseins signalisierte, dass er gesund war. Darauf musste er sich konzentrieren, nicht auf vergessene Rezepte und den Tod. Das beschlagene Fenster setzte einen eiskalten Abdruck auf seine Stirn und ließ ihn in Tränen ausbrechen.
    Das Atmen fiel ihm leichter. Der Puls, der gegen Trommelfell, Rippen, Fingerspitzen und in seiner Lende so hart gedonnert hatte, dass es wehtat, beruhigte sich.
    Oslo lag da wie zuvor, auf der anderen Seite des Fensters, vor diesem Zimmer mit Blick auf Meer, Fjord und Inseln. Marcus Koll jr. hatte soeben ein Vermögen für gute Zwecke gestiftet, und er sehnte
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