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Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)

Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)

Titel: Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
Autoren: Barbara Beuys
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I
    Vom Kirmes-Platz zur Berlin-Revue
    1875 bis 1919
    Er müsse sich noch mit seiner Frau beraten, hatte der Vierundvierzigjährige den Genossen gesagt, die ihn im Dezember 1919 als einen der beiden sozialdemokratischen Beigeordneten im Gemeinderat von Amsterdam aufstellen wollten. Es wird spät gewesen sein, als Salomon Rodrigues de Miranda nach intensiven Gesprächen mit seinen politischen Freunden zuhause in der Pretoriusstraat 71 ankam, einer modernen geräumigen Genossenschaftswohnung im Transvaalviertel. Beim Umzug der Familie von Nummer 48 nach 71 waren die Hühner, die man im Gemeinschaftsgarten halten konnte, verkauft worden, sehr zum Bedauern der Kinder. Aber Monne de Miranda, wie ihn alle nannten, konnte sich wirklich nicht um die Familien-Hühner kümmern. 1911 war er in den Gemeinderat von Amsterdam gewählt worden, und sein bisheriges Arbeitspensum als führender Politiker in der Sozialdemokratischen Partei der Niederlande ( SDAP ) und der landesweiten Gewerkschaft der Diamantarbeiter ( ANDB ) wurde deshalb nicht weniger. De Mirandas Frau Selly Elion war eine selbstbewusste Ehepartnerin, interessiert an Politik und Kultur. Doch den Familien-Alltag mit den fünf Kindern musste sie, obwohl von labiler Gesundheit, allein bewältigen; da waren die Hühner einfach zu viel.
    Das Gespräch zwischen Monne de Miranda und seiner Frau konnte nur ein Ergebnis haben: Ein Mann mit seinen Erfahrungen und Visionen musste die Chance ergreifen, in Amsterdam politische und gesellschaftliche Reformen anzustoßen und voranzutreiben, vor allem für die Klasse der Arbeiter, aus der er selber kam und für deren Fortschritt er sich seit zwanzig Jahren engagierte. Am 2. September 1919 wurde Monne de Miranda vom Amsterdamer Gemeinderat zum Beigeordneten für die Lebensmittelversorgung gewählt.
    Die niederländische Regierung hatte – und hat – ihren Sitz traditionsgemäß in Den Haag, ebenso die königliche Familie, das Fürstenhaus Oranien. Amsterdam jedoch war – und ist – seit 1815 die Hauptstadt des Königreichs der Niederlande. Und nun gehörte der gelernte Diamantschleifer Monne de Miranda, in der Nieuwe Kerkstraat 69 in eine arme Familie jüdisch-portugiesischer Herkunft geboren, zum Magistrat dieser Stadt, die an Menschen, politischem Gewicht, ökonomischer Kraft und kultureller Bedeutung alle anderen im Land weit überragte.
    De Mirandas Biografie bis 1919 verkörpert und spiegelt den Aufbruch Amsterdams in die Moderne: den rasanten Prozess aus vorindustrieller Verschlafenheit in die Betriebsamkeit und die Lebendigkeit einer europäischen Metropole, zu der bald das imponierende Äußere dazu gehörte. Mit dem Jahr 1875, als am 21. März, einem Sonntag, Monne de Miranda im Amsterdamer Judenviertel auf die Welt kam, begann in der Hafenstadt an Amstel und IJ eine neue Zeit, von der alle, auch die Ärmsten, profitierten.
    Das Neue wird nicht immer mit Zustimmung empfangen. Im Sommer 1875 erklärte der Magistrat, dass die traditionelle Amsterdamer September-Kirmes mit diesem Jahr ihr Ende finden würde. Protest wurde laut, in einigen Vierteln kam es zu Unruhen. Ob Dienstmädchen, Arbeiter- oder Kaufmannsfamilien: Man lebte und sparte auf diese drei Wochen im September hin, wenn Amsterdam ein einziger Rummelplatz war mit Drehorgeln, Puppenspielern, Gauklern, Krambuden und Akrobaten auf allen Plätzen. Das Zentrum des fröhlichen Volksfestes lag am Botermarkt.
    Die Stadtverwaltung setzte sich durch: Nicht mehr Kirmes-Tingeltangel sollte das Bild Amsterdams prägen, sondern großstädtische Eleganz. Nicht mehr in Zelten und Buden sollte man Alkohol nebst billiger Unterhaltung suchen, sondern in steinernen Tempeln von der Kunst erhoben werden oder Vergnügungen in feinen Etablissements finden, wie Paris es ganz Europa vormachte.
    Nach dem Kirmesverbot folgte 1876 die Umbenennung vom Botermarkt in Rembrandtplein. Schon 1852 hatte man mit feierlichem Pomp auf dem Botermarkt ein überlebensgroßes Rembrandtdenkmal aufgestellt. Als Rembrandtplein sollte dieser zentrale innerstädtische Platz an die glorreiche Epoche im 17. Jahrhundert anknüpfen, als Amsterdam modern, urban und international war. Der Maler Rembrandt hatte in jenem »Goldenen Jahrhundert« gelebt, als an der Amstel Wohlstand und Kunst harmonierten. Als die kosmopolitischen Amsterdamer Kaufleute sich an Heren-, Keizers- und Prinsengracht prächtige Häuser bauten, als der Magistrat unterschiedliche christliche Konfessionen tolerierte und ebenso die jüdischen
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