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Gotteszahl

Gotteszahl

Titel: Gotteszahl
Autoren: Anne Holt
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Wellen mit den weißen Schaumkronen waren alles, was darauf schließen ließ, dass es sich bei der schwarzen Fläche zwischen Rådhuskai und Nesodden und weiter bis hinaus zum Hurumland um Fjord und Meer handelte.
    Aber die Lichter waren schön: Straßenlaternen und Lampen wurden durch die Wassertropfen am Fenster zu schimmernden Sternen.
    Alles lag auf dem Schreibtisch bereit.
    Die Weihnachtsgeschenke.
    Eine Kreuzfahrt durch die Karibik für Bruder und Schwester mit ihren Familien. Zwar mit einem Schiff der eigenen Reederei, aber dennoch ziemlich großzügig.
    Ein Schmuckstück für die Mutter, die am Heiligen Abend neunundsechzig wurde und von Diamanten nie genug bekam.
    Ein ferngesteuerter Hubschrauber und ein Rodelbrett für den Sohn.
    Nichts für Rolf, wie sie es abgemacht hatten und immer wieder bereuten.
    Und 20 000 000 Kronen für gute Zwecke.
    Das war alles.
    Die persönlichen Geschenke hatte er schnell besorgt. Er hatte im November bei seinem Juwelier in Amsterdam weniger als eine halbe Stunde gebraucht, dazu kamen ein Rundgang durch ein Einkaufszentrum in Boston in derselben Woche und zwanzig Minuten in der vergangenen Nacht am Rechner, um einen schönen Gutschein für die Familien seiner Geschwister zu entwerfen. Verlockende Bilder von Martinique und Aruba waren auf der Website der Reederei reichlich vertreten. Das Ergebnis war überzeugend und so persönlich, dass er die ganze Sippe im Sonnenwind an der Reling der MS Princess Ingrid Alexandra aufreihte.
    Was seine Zeit gebraucht hatte, war die Verteilung der Spenden für wohltätige Zwecke.
    Marcus Koll jr. legte seine Seele in jede einzelne Gabe. Das war sein Weihnachtsgeschenk an sich selbst. Es tat ihm gut und erinnerte ihn an seinen Großvater. Der alte Mann, der für den kleinen Marcus fast wie ein Gott gewesen war, hatte ihm einmal eine Frage gestellt: Ein Mann hilft zehn anderen in Not und wird dafür geehrt. Ein anderer Mann hilft nur einem anderen in Not, behält es aber für sich, und niemand dankt ihm dafür. Welcher von beiden ist der bessere Mensch?
    Der Zehnjährige hatte gesagt, der Erste, und seither musste er sich damit herumschlagen. Marcus hatte lange darauf bestanden: Die Absicht des Gebers spiele keine Rolle. Was zähle, sei das Ergebnis. Zehnmal sei besser als einmal. Der alte Mann hatte lange für das Gegenteil argumentiert. Bis der Junge mit fünfzehn seine Meinung geändert hatte. Wie auch der Großvater. So hatten sie die Diskussion fortgesetzt, bis Marcus Koll sr. im Alter von dreiundneunzig Jahren gestorben war und ein sorgfältig geordnetes Leben in einem graugrünen Ordner mit dem Emblem der Norwegischen Eisenbahn hinterlassen hatte. Die Papiere bewiesen, dass er sein Leben lang zwanzig Prozent seiner Einkünfte gespendet hatte. Nicht zehn, wofür es in der Arbeiterbewegung eine gewisse Tradition gab, sondern zwanzig. Ein Fünftel des Lebensverdienstes seines Großvaters war ein Geschenk an Menschen gewesen, denen es schlechter ging als ihm.
    Marcus jr. sah am Tag der Beerdigung seines Großvaters alle Unterlagen durch. Es wurde eine Zeitreise durch die düstersten Geschehnisse des 20. Jahrhunderts. Es gab Quittungen für Überweisungen an arme Witwen vor dem Krieg, an jüdische Kinder in der Nachkriegszeit, an Flüchtlinge aus Ungarn 1956. Ein Kinderhilfswerk erhielt seit 1959 jeden Monat eine kleine Summe, und der Großvater hatte bei den meisten Katastropheneinsätzen nach 1920 sein Scherflein beigetragen, von Schiffsunglücken in den Jahren vor dem Krieg über die Hungersnot in Biafra bis zum Tsunami vor der Insel Sumatra. Er war nur fünf Tage nach der Flutwelle gestorben, hatte sich aber noch ins Postamt von Tøyen schleppen können, um Ärzte ohne Grenzen fünftausend Kronen zu schicken.
    Als Lokomotivführer mit nicht berufstätiger Frau, fünf Kindern und schließlich vierzehn Enkelkindern konnte es nicht immer leicht gewesen sein, Jahr für Jahr die Lohntüte und später das Rentenkonto zu belasten. Aber er hatte sich nie ehren lassen. Die Beträge wurden in verschiedenen Postämtern bar eingezahlt, alle weit genug entfernt von dem Mietshaus in Vålerenga, sodass er nicht erkannt wurde.
    Der Großvater hatte nicht einem Menschen geholfen, ohne dafür die geringste Anerkennung zu erhalten, sondern Tausenden.
    Genau wie sein Enkel.
    Die Spenden, die der jüngere Marcus Koll Hilfsorganisationen und Forschungsprojekten zukommen ließ, waren allerdings von ganz anderer Größenordnung. Das wäre ja auch noch schöner
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