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Gotteszahl

Gotteszahl

Titel: Gotteszahl
Autoren: Anne Holt
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eine freudige Überraschung. So auf einmal. Ein Bruder. Aus heiterem Himmel.«
    Draußen wurde es dunkel. Im Westen hatte die Sonne einen schmalen orangefarbenen Streifen hinterlassen. In einer halben Stunde würde auch der verschwunden sein.
    »Aber die Freude war nicht von langer Dauer. Er behauptete, der wahre Erbe von allem zu sein. Wirklich von allem.«
    »Was meinst du mit › von allem ‹? «, wagte Rolf zu flüstern.
    »Das hier«, sagte Marcus und zeigte mit großer Geste auf das Zimmer. »Das, was mir gehört. Uns. Das gesamte Erbe unseres gemeinsamen Vaters.«
    Jetzt fing Rolf an zu lachen. Ein trockenes, seltsames Lachen. »Er kann doch nicht einfach kommen und sich als verlorener Sohn ausgeben, der …«
    »Ein Testament«, fiel Marcus ihm ins Wort. »Er hatte ein Testament. Er hatte es zwar noch nicht in Händen, aber seine Mutter hatte ihm mitgeteilt, dass irgendwo ein solches Dokument hinterlegt worden sei. Er musste es nur noch finden. Der Typ war ziemlich unangenehm, und ich konnte ihm ja auch nicht so einfach glauben, also hab ich ihn vor die Tür gesetzt. Er war stocksauer und schwor grausame Rache, wenn er sich erst das Testament gekrallt hätte. Er kam mir fast …«
    Marcus fuhr sich mit der rechten Hand über die Augen. »Verrückt«, murmelte er. »Der Mann kam mir verrückt vor. Ich beschloss, ihn zu vergessen, aber schon nach wenigen Stunden wurde ich nervös.«
    Er ließ die Hand sinken und sah Rolf an. »Niclas Winter hatte durchaus Ähnlichkeit mit meinem Vater«, sagte er heiser. »Etwas an ihm hat mich dazu gebracht, seiner Geschichte nachzugehen. Sicherheitshalber.«
    »Wie denn?«
    »Indem ich meine Mutter gefragt habe.«
    »Elsa? Wie in aller Welt könnte sie …«
    Marcus schüttelte den Kopf. »Sowie ich ihr von dem Typ erzählte, der mich besucht und behauptet hatte, nicht nur mein Bruder zu sein, sondern auch Georgs Erbe für sich beanspruchen zu können, brach sie einfach zusammen. Als ich sie endlich zum Reden bringen konnte, erzählte sie, dass sie meinen Vater fünf   Tage vor seinem Tod noch gesprochen habe. Sie war zu ihm gegangen, um zu betteln … Um ihn für Anine um Geld zu bitten. Meine Schwester hatte sich von ihrem damaligen Lebensgefährten getrennt und wollte ihre kleine Wohnung in Grünerløkka nur ungern aufgeben. Als Verkäuferin in einem Buchladen konnte sie sich die aber nicht leisten, so ganz allein.«
    »Ich glaube, du solltest jetzt aufhören«, sagte Rolf und schluckte hörbar. »Du siehst aus wie ein lebender Leichnam, Marcus. Du solltest dich hinlegen, du solltest …«
    »Ich muss meine Geschichte zu Ende erzählen!« Er schlug mit der Faust auf die Armlehne. Das dumpfe Geräusch brachte Rolf dazu, sich im Sessel zurücksinken zu lassen.
    »Und du musst mir zuhören!«, fauchte Marcus.
    Rolf nickte eilig.
    »Mein Vater hat Mama glatt vor die Tür gesetzt«, sagte Marcus.
    Ruhig, dachte er. Erzähl deine Geschichte, tu, was du tun musst.
    »Aber er hat ihr noch erzählt, dass er ein Testament gemacht hatte, zum Vorteil des … Bankerts, wie Mama ihn nennt. Sie hat immer schon von ihm gewusst. Auch um diesen Sohn hat mein Vater sich nie gekümmert. Er wollte uns nur bestrafen. Wollte Mama bestrafen, vermute ich mal.«
    Einer der Setter stand aus dem Korb auf. Das Flechtwerk ächzte, und der Hund gähnte ausgiebig, ehe er zu Marcus herüberkam und ihm den Kopf auf die Knie legte.
    »Als mir klar wurde, dass der Mann die Wahrheit sagte, hatte ich keine Ahnung, was ich machen sollte.«
    Er legte die Hand auf den weichen Hundekopf.
    Rolf atmete mit offenem Mund. Er röchelte fast, wie kurz vor einem Asthmaanfall.
    »Ich werde es kurz machen«, sagte Marcus jetzt und schob den Hund weg.
    Wie ein Greis erhob er sich aus dem Sessel. Er trat einen Schritt vor und blieb halb von Rolf abgewandt stehen. Der Hund setzte sich neben ihn, und beide schienen im Dunkeln draußen etwas zu suchen.
    »Drei Tage darauf war ich in den USA«, sagte Marcus, seine Stimme hatte einen metallischen Klang. »Es war business as usual, aber es ging mir nicht gut. Eines Abends habe ich mich betrunken, zusammen mit einem Direktor von Lehman Brothers, der gerade gefeuert worden war. Ich wollte gar nicht …«
    Die Pause dauerte lange.
    »Vergiss es. Es geht darum, dass ich ihm die Geschichte erzählt habe. Er hatte eine Lösung.«
    Eine noch längere Pause.
    Der Hund fiepte und seine Schwanzspitze fegte über den Boden.
    Im Süden bewegte sich das blinkende Licht eines
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