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Kuckuckskind

Kuckuckskind

Titel: Kuckuckskind
Autoren: Ingrid Noll
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heute fühlt er sich im Elternhaus wieder ganz als Kind. Ich sitze sehr aufrecht und steif in einem hohen Lehnstuhl und beobachte den Angeklagten. Mir fehlt bloß noch ein Talar.
    »Hast du mit deiner Französischlehrerin geschlafen?«, fragt Patrick.
    Manuel erschrickt und wird blass, stellt sich aber erst einmal dumm.
    »Französisch haben wir bei einem gewissen Herrn Schuster«, sagt er.
    Patrick reißt der Geduldsfaden. »Herrgott noch mal, du weißt genau, dass ich diese Birgit Tucher meine!«, brüllt er. »Leugnen hat im Übrigen gar keinen Zweck!«
    »Und wenn schon«, protestiert Manuel, »das geht euch gar nichts an.«
    Patrick zieht den Laborbrief aus seiner Hosentasche und überreicht ihn seinem Sprössling.
    [330] Manuel liest und versteht überhaupt nichts.
    Nun schalte ich mich ein. »Manuel, du bist der Vater von Victor«, sage ich.
    »Das glaube ich einfach nicht«, ruft er empört, »von einem Mal kann es nicht sein!«
    Nun ist die Katze aus dem Sack, wir interpretieren diese Aussage als Geständnis. Patrick regt sich furchtbar auf. »Du warst noch keine 15!«, schreit er. »Warum hast du mir nichts gesagt! Ich hatte ja keine Ahnung!«
    Viel diplomatischer als sein Vater ist Manuel offenbar auch nicht.
    Er zitiert einen Satz, den er wohl von einem greisen Millionär an Bord gehört hat: »Der Kavalier genießt und schweigt.«
    Ich kann nicht schnell genug eingreifen, der sanfte Patrick verpasst seinem Sohn eine saftige Ohrfeige. Manuel läuft zwar nicht auf und davon, wie ich befürchte, sondern schmollt eine Weile wie ein Kleinkind. Schließlich erhalten wir einen stockenden Bericht, wie es zum Sündenfall von Lehrerin und Pennäler kam.
    Birgit Tucher hatte einen guten Draht zu ihrem Schüler, er lernte relativ eifrig, und nach der Stunde tranken sie oft noch Tee zusammen, aßen Madeleines, und die Lehrerin empfahl die Lektüre von [331] Marcel Proust und Victor Hugo. Eines Tages erzählte Manuel von seiner Mutter, die gerade die Dorabella in Birgits Lieblingsoper Così fan tutte sang, und Birgit zeigte sich sehr beeindruckt. Aber was nützt eine berühmte Mutter, die das Haus verlassen hat? Auch mir hatte Manuel seine Verzweiflung angedeutet, als vor Jahren die kleine Schwester starb und die Mama sich absetzte. Birgit erwies sich als so einfühlsam und mitleidig, dass er mehr und mehr von seinen verletzten Gefühlen preisgab und am Ende in Tränen aufgelöst war.
    Nun wiederum schien sie sich zu schämen, dass sie ihren Schüler in einen so aufgelösten Zustand versetzt hatte, nahm ihn in die Arme, herzte und küsste ihn. Vielleicht kannte sie keine andere Art, einen unglücklichen Mann zu trösten, vielleicht war es ein verschütteter Mutterinstinkt, der sie leitete.
    Jedenfalls erwiderte der tränennasse Manuel irgendwann ihre Zärtlichkeiten, und das Tucher’sche Wohnzimmersofa wurde zum Schauplatz einer ebenso stürmischen wie ungeplanten Vereinigung.
    »Wenn es herausgekommen wäre«, flüstert Manuel, »hätte man sie bestimmt ins Gefängnis geworfen. Ich habe geschworen, dass ich es niemals im Leben verraten würde!«
    Offenbar war es tatsächlich bei diesem einen Mal geblieben. Birgit fürchtete, dass ihre Verfehlung ans [332] Licht kommen könnte, und verhinderte eine Wiederholung durch einen rigorosen Schnitt. Sie teilte ihrem Schüler schriftlich mit, dass er keine weiteren Nachhilfestunden mehr brauche, denn der Kollege Anselm Schuster habe Manuels Fortschritte über den grünen Klee gelobt.
    »Wir haben uns nie wieder unter vier Augen gesehen«, sagt er. »Danach fingen ja auch bald die Sommerferien an.«
    Plötzlich springt Manuel auf, und wir folgen ihm besorgt. Er eilt zum schlafenden Victor, reißt ihn aus dem Bettchen und presst ihn heftig an sich. Als sein müder Schneck zu quäken beginnt, legt er ihn wieder zurück, setzt sich daneben und schaut ihn unentwegt an. Patrick und ich lächeln uns mühsam zu, wir sind alle miteinander wie gerädert.

[333] 25
    Im Chor proben wir seit vielen Wochen das Weihnachtsoratorium, und auch der erste Advent wurde bereits gefeiert, unser Aufführungstermin rückt näher. Victor wird immer niedlicher, eine Kreuzung zwischen Lehrerin und Schüler sei gar nicht das Verkehrteste, flüstert Patrick mir zu. Inzwischen bin ich rundlicher, und Manuel ist nachdenklicher geworden. Er scheint das heimliche Rauchen aufgegeben zu haben, vielleicht seinem Sprössling zuliebe. Computer und Mofas interessieren ihn auf einmal weniger, abends hockt er
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