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Kuckuckskind

Kuckuckskind

Titel: Kuckuckskind
Autoren: Ingrid Noll
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angesehener, älterer Herr vor, der einen Ruf zu verlieren hat. Aber so macht es natürlich viel mehr Sinn – ein Schüler würde sich eventuell damit brüsten, seine Lehrerin verführt zu haben. Und wenn der Sündenfall amtlich wird, dann ist es aus und vorbei mit dem deutschen Beamtenstatus.«
    Wir nehmen beide an, dass Birgit noch einen Funken Hoffnung hatte, Steffen könnte vielleicht doch der Vater sein, sonst hätte sie sich von Françoise die Abtreibung nicht ausreden lassen. Je länger ich mich [314] gedanklich mit Birgits letztem Jahr befasse, desto trauriger wird mir bewusst, wie sehr ich ihr ausgewichen bin und ein freundliches Wort oder gar Hilfsangebot versäumt habe.
    Patrick schlägt vor, mit Victor einen Spaziergang zum Marktplatz zu machen und ein Eis zu essen. Er weiß, dass er mir damit eine Freude machen kann, und will wahrscheinlich ein Bier trinken. Es ist ein warmer Tag, in den Ferien sind die Einheimischen verreist oder im Schwimmbad, dafür treiben sich jetzt die Touristen im Park und in der Altstadt herum.
    Und leider auch Mutter Natur. Unverhofft steht sie vor uns und guckt neugierig in den Kinderwagen. Victor hat gerade eine Löffelspitze Eis von mir erhalten, das Erste seines Lebens. Er sitzt aufrecht an ein Kissen gelehnt und betrachtet die Welt mit seinen großen dunklen Kulleraugen.
    »Gratulation«, sagt Mutter Natur, »ein süßer kleiner Schelm. Ganz der Opa!«
    Ob sie am Ende meint, Patrick sei mein Vater?
    Wir nicken ihr freundlich zu und vermeiden tunlichst ein Gespräch. Als sie sich entfernt hat, ist Patrick leicht gekränkt. Es passt ihm nicht, dass man ihm sofort die Großvaterrolle zuweist. Zum Glück hat Mutter Natur keine Bemerkung über den [315] bewussten Zeitungsartikel gemacht, wohl weil das Lehrerzimmer in den Ferien als Kommunikationszentrum wegfällt und sie das hiesige Blättchen nicht liest. Über kurz oder lang werden aber alle Kollegen die Sensation über Birgits und Steffens Tod zu hören bekommen.
    Am Abend, gerade als ich beschließe, Gernot anzurufen, läutet mein Telefon. Patrick greift schneller zum Hörer als ich, aber offensichtlich ist es nicht mein Exmann. Trotzdem bleibe ich stehen und lausche, denn Patrick macht ein so erschrockenes Gesicht, dass ich hellhörig werde.
    »Verstehe«, sagt er, »ja, ich bin im Bilde. Ganz klar. Nein, nein. So ist es nicht, da irren Sie sich. Erst einmal probeweise? Nach Teneriffa fliegen, ach so.«
    Er macht mir ein Zeichen, dass er Papier und Bleistift brauche. Ich beeile mich und spitze weiter die Ohren, es scheint eine Frau zu sein. Patrick schreibt einen Namen und eine Telefonnummer auf. Die Unbekannte redet und redet.
    Auf einmal richtet sich mein Held kerzengerade auf, und seine Stimme nimmt einen geradezu autoritären Klang an. »Ich fürchte, das hat im Augenblick überhaupt keinen Sinn. Der Kleine leidet an einer schmerzhaften Mittelohrentzündung und weint fast ununterbrochen. Der Kinderarzt meint, es könne [316] chronisch werden, wenn es nicht restlos ausheilt. In diesem Zustand kann man Victor wirklich keine Reise zumuten, das wäre auch für Sie eine allzu große Belastung.«
    Überzeugender hätte man nicht lügen können, ich bin richtig stolz auf Patrick. Offenbar hat er Birgits Kusine mit Diplomatie und Flunkerei abgewimmelt.
    »Das haben wir ja gern, ein Baby im Urlaub erst einmal testen! Und wie kann man nur so unerfahren sein«, wettert er, »und mit einem kranken Kind ins Flugzeug steigen wollen! Noch dazu bei einer Mittelohrentzündung!«
    Wir müssen beide ein wenig lachen, denn seit wir ihn bei uns haben, ist Victor noch keinen Tag krank gewesen.
    Trotzdem kann ich nicht lange heiter bleiben, und aus reiner Gewohnheit schlage ich einen lehrerhaften Ton an: »Leider neigst du dazu, unangenehme Dinge zu verdrängen, aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Die Frau vom Jugendamt, Birgits Schwester und ihre Kusine, Manuel und seine Mutter, die Polizei – mit allen müsste man endlich Tacheles reden.«
    »Möchtest du etwa ein Finale mit Pauken und Trompeten?«, fragt er. »Ich habe – ehrlich gesagt – einen Heidenbammel davor.«
    »Ach, mein armer Hasenfuß«, tröste ich. »Aber [317] wenn du endlich reinen Tisch machst, dann könntest du dich in einem Aufwasch auch gleich scheiden lassen.«
    »Und wer wird mich dann ernähren?«, fragt Patrick. Dann beichtet er, dass er auf eine seiner Bewerbungen einen positiven Bescheid bekommen und einen Termin für ein Vorstellungsgespräch in Stuttgart
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