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Kuckuckskind

Kuckuckskind

Titel: Kuckuckskind
Autoren: Ingrid Noll
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[5] 1
    Früher hatten mir das Singen im Chor und die wöchentlichen Proben sehr viel bedeutet. Es war eine nette Gemeinschaft, die sich da einmal in der Woche zusammenfand, außerdem konnte ich mein musikalisches Wissen erweitern und einen Abend lang alle Probleme vergessen. Die Konzentration, die für zwei Stunden nötig war, machte mich nie müde, sondern gab mir Kraft. Beschwingt und in bester Laune kam ich dann nach Hause zurück.
    Bis zu jenem schwarzen Montag, als die Probe ausfiel, ohne dass man uns vorher benachrichtigen konnte. Wir standen schon im Vereinsraum vor dem Flügel herum und schwatzten, als die Frau des Chorleiters hereinstürzte und uns mitteilte, ihr Mann habe einen Unfall gehabt. Die meisten von uns zogen in eine Kneipe weiter. Vielleicht hätte ich ihnen besser folgen sollen, doch ich beschloss, den frei gewordenen Abend daheim zu verbringen. Gernot würde sich bestimmt freuen.
    [6] Als ich mein Fahrrad abgestellt hatte und unsere Haustür aufschloss, tönte mir Musik entgegen. Ich lauschte verwundert: Je t’aime – moi non plus…
    Diese alte Aufnahme von Serge Gainsbourg und Jane Birkin hatte ich mir während eines Studienaufenthaltes in Frankreich zugelegt. Seltsam, dachte ich und setzte erst einmal Teewasser auf, denn ich fror ein wenig. Draußen war es herbstlich kühl geworden, und ich hatte nur eine Strickjacke übergezogen. Ob Gernot litt, wenn er jeden Montagabend allein war? Tröstete er sich mit erotischen Chansons? Wir hatten schon lange keinen Sex mehr gehabt.
    Anscheinend hatte er mein Kommen nicht bemerkt. Ein leiser Argwohn bewog mich, die Schuhe auszuziehen, über den Flur zu schleichen und durch einen Türspalt ins schummrig beleuchtete Wohnzimmer zu spähen.
    Zuerst konnte ich nicht richtig erkennen, was sich da auf unserem Sofa abspielte. Aber es waren unübersehbar zwei Personen, die dort stöhnten.
    Ich weiß wirklich nicht, wie lange ich regungslos zuschaute. Leider – oder besser Gott sei Dank – hatte ich keine Erfahrung, was in einem solchen Fall zu tun ist. Sollte ich mich blind und taub stellen, einfach verschwinden und erst wie erwartet kurz nach zehn Uhr zurückkommen? Sollte ich mich vor ein [7] Auto werfen oder Feuer legen? Hineinstürmen und einen hysterischen Anfall kriegen? Oder gar alle beide erschießen?
    Doch anstatt in irgendeiner Form einzugreifen, trat ich völlig verstört, aber lautlos den Rückzug in die Küche an. Das Wasser kochte schon eine Weile, ich selbst brauchte anscheinend etwas länger, bis mein Blut zum Sieden kam. Wie in Trance hängte ich einen Teebeutel in die Kanne und goss das sprudelnde Wasser darüber. Den Deckel schob ich beiseite. Dann stellte ich zwei Tassen, die Zuckerdose und den Tee auf ein Tablett und startete die Attacke.
    Mit flinken Schritten näherte ich mich dem Sofa, erstarrte plötzlich wie unter Schock, hielt das Tablett sekundenlang schief und ließ die volle Kanne über die Sünder kippen. Gernot und seine Gespielin fuhren in panischem Schreck auseinander und brüllten vor Schmerz.
    Der kochend heiße Tee hatte zu großflächigen Verbrühungen geführt, zumal er hauptsächlich auf nackte Bäuche traf.
    Meine Angst vor einer Strafanzeige war groß, da es sich um einen klaren Fall von Körperverletzung handelte und der Notarzt beide ins Krankenhaus einwies. Gernot erklärte die Verbrennung mit einem selbst verschuldeten Unfall, weil er die heikle [8] Situation nicht im Detail schildern mochte; auch bei der Scheidung kam die Sache nicht zur Sprache. Und von mir wird sowieso niemand erfahren, dass ich mit voller Absicht Vergeltung geübt habe.
    Am besagten Abend rief ich zwar die Rettungsstelle an, sprach aber kein Wort mit meinem Mann. Als der Krankenwagen abfuhr, packte mich ein Weinkrampf. Keiner konnte mich trösten, denn von da an war ich allein.
    Gernot musste nicht lange im Krankenhaus bleiben. Nach seiner Entlassung fand er unser Häuschen unbewohnt vor. Ich hatte in der Zwischenzeit das Nötigste gepackt und war in ein Hotel gezogen. Bereits nach einer Woche bot mir ein Makler meine jetzige möblierte Wohnung an. Ohne sie vorher zu besichtigen, sagte ich zu, denn ich brauchte eine Übergangslösung. Leider ist es bis heute dabei geblieben, weil ich seit unserer Trennung wie gelähmt bin.
    Wahrscheinlich schleppt jeder Erinnerungen mit sich herum, die nicht zu verdrängen sind und das gesamte Leben belasten, ein Gemisch aus Scham, Zorn, Peinlichkeiten und Trauer. Meine Rolle bei unserem Ehedrama war alles
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