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Kuckuckskind

Kuckuckskind

Titel: Kuckuckskind
Autoren: Ingrid Noll
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erhalten hat. Wann das sei, will ich wissen und erfahre, dass der Termin längst verstrichen ist.

[318] 24
    In den letzten Tagen haben wir fast unaufhörlich über Birgit und Manuel gesprochen. Patrick kann sich kaum vorstellen, dass sein halbwüchsiger Junge mit einer Lehrerin geschlafen hat. Die Initiative muss seiner Meinung nach von ihr ausgegangen sein, wohingegen ich bezeuge, dass Birgit eine verantwortungsvolle Pädagogin war und meistens Freunde oder Lover hatte, die älter waren als sie selbst; auf keinen Fall traue ich ihr eine pädophile Ader zu. Dabei verschweige ich, dass Birgit vor Jahren in übermütiger Ferienlaune behauptet hatte, dass man Fremdsprachen am besten im Bett lerne.
    »Hätte ich doch Manuel die Nachhilfestunden gegeben!«, klage ich mich an. »Warum habe ich dir bloß meine Kollegin empfohlen, auch in diesem Punkt bin ich schuldig geworden! Mea culpa, mea maxima culpa!«
    »Quatsch keinen lateinischen Mist«, sagt Patrick, »das Baby ist nun einmal auf der Welt.«
    »Darauf bildet sich Françoise bereits etwas ein, denn sie hat die geplante Abtreibung verhindert.«
    [319] »In zehn Tagen ist Manuel wieder hier, allerdings erst am späten Nachmittag«, meint Patrick und schaut gedankenverloren auf die Uhr. »Natürlich wird er viel erzählen und dann seine Sara oder Julian besuchen wollen. Findest du es richtig, wenn wir den Ankunftstag verstreichen lassen und er erst einmal ausschlafen darf?«
    »Das ist eigentlich dein Problem«, sage ich.
    »Anja, ich möchte, dass du bei diesem unangenehmen Gespräch dabei bist«, bittet er. »Ich habe das Gefühl, dass ich sonst alles falsch machen werde.«
    »Schatz, es ist nicht mein Sohn, außerdem bist du ein Stückchen älter und erfahrener als ich. Aber wenn du unbedingt willst, setze ich mich als Unparteiische in eine Ecke und sperre die Ohren auf. Sobald Blut fließt, hole ich den Verbandskasten.«
    »Oder sollte man einen Psychologen um Hilfe bitten?«
    »Am besten gleich noch den Pfarrer und den Gecko!«
    Unser Ton ist vielleicht etwas lauter geworden, wir sind beide nervös, und Victor reagiert mit unmutigem Gezeter.
    »Übrigens«, belehre ich Patrick, »neulich war eine Schülerin mit ihrer Mutter in meiner Sprechstunde. Da sprach doch diese Frau tatsächlich im [320] Beisein der Tochter über deren fragwürdige Eigenschaften, speziell über ihre Faulheit. Ich sollte das bestätigen, was ich natürlich nicht getan habe. Bereits während des Studiums habe ich gelernt, dass man in Gegenwart von Kindern nicht über sie reden darf. Und überhaupt soll man sich niemals einbilden, sie bekämen nichts mit, selbst die Kleinsten haben gute Antennen. Wir müssen Rücksicht auf Victor nehmen, er scheint Spannungen sofort zu wittern.«
    »Jawoll, Oma Anja«, sagt Patrick.
    »War das ein Heiratsantrag, Großväterchen?«, frage ich, und wir müssen lachen.
    Victor hört mit seinem Lamento auf, schaut von einem zum anderen und kräht wie erlöst. Ich rümpfe allerdings die Nase, denn das Unbehagen hatte wohl eher seiner Verdauung gegolten.
    Jeden Morgen lauern wir auf die Post, aber im Augenblick kommt sie unregelmäßig, denn auch Briefträger machen Ferien. Obwohl wir eigentlich wissen, dass es noch zu früh für die Nachricht des Labors ist, warten wir ungeduldig. Es könnte immerhin sein, dass unsere gesamten Spekulationen nichtig würden und die Frage nach dem unbekannten Vater neu zu klären wäre.
    Diesmal sind alle möglichen Postkarten im [321] Briefkasten: Freunde und Kollegen schicken Grüße aus aller Herren Länder. Auch Manuel und seine Mutter haben ein Foto ihres imposanten Schiffes ausgesucht und ein paar Worte hinzugefügt.
    »Er hat eigentlich noch eine richtige Kinderschrift«, murmelt Patrick und erwartet meine Zustimmung.
    »Eher eine Arztklaue«, finde ich. »Seinen letzten Satz kann ich überhaupt nicht entziffern.«
    »Grüßt mir meinen kleinen Schneck«, liest Patrick kopfschüttelnd vor. »Meint er seine Freundin?«
    »Die Sara bekommt sicher dicke Liebesbriefe«, behaupte ich. »Du nennst Klein-Victor meistens Bärchen, dein Sohn hat ihn Schneck getauft. Seltsam, dass man immer tierische Kosenamen verwendet.«
    »Leno war mein Mäuschen«, sagt Patrick.
    Sein Tonfall wird stets traurig, wenn er seine verstorbene Tochter erwähnt. Über ein neues Mäuschen in der Familie würde er sich wahrscheinlich noch mehr freuen als über sein Bärchen, hoffe ich, und was nicht ist, kann ja noch werden. Morgen will ich mir in der
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