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Kuckuckskind

Kuckuckskind

Titel: Kuckuckskind
Autoren: Ingrid Noll
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Alter meiner Mutter, die Crew ist dagegen jung und dynamisch. Endlich erscheint das Foto eines rothaarigen Teenagers, auf das wir gespannt gewartet haben.
    »Flotter Käfer«, sagt Patrick.
    Manuel klickt schleunigst auf das nächste Foto, auf dem wir einen gewaltigen Wasserfall bestaunen sollen.
    »Seid ihr intim geworden?«, fragt Patrick völlig undiplomatisch, und ich zucke zusammen.
    Sein Sohn lässt sich jedoch nicht so schnell in die Karten gucken. »Wo denn? Schließlich musste ich die Kabine mit meiner Mutter teilen«, sagt er und [326] erzählt übergangslos eine witzige Geschichte von Trollen und isländischem Bier. Dann wird er plötzlich unruhig, die restlichen Bilder spult er im Schnellgang herunter. Manuel verlässt uns, den Laptop nimmt er mit aufs Mofa.
    »Das war die Pflicht«, sagt Patrick, »die Kür hat er sich wahrscheinlich für Sara und Julian aufgespart. – Nimmst du das Bärchen nach oben? Manuel wird spät heimkommen und will sicher noch mal richtig ausschlafen.«
    Patrick hat offensichtlich das gleiche Bedürfnis, während mein frühes Aufstehen als Selbstverständlichkeit betrachtet wird. Als künftiges Muttertier murre ich jedoch nicht, sondern schnappe mir den prallen Victor und schleppe ihn die Treppe hinauf.
    Falls wir nun wirklich im nächsten Jahr eine Familie mit zwei Babys würden, müsste man das Haus allerdings anders aufteilen. Auf jeden Fall möchte ich nicht mehr getrennt von Patrick schlafen. Die beiden Kleinen sollen ein gemeinsames Kinderzimmer bekommen, und Manuel muss dann seinem gefräßigen Schneck in aller Frühe die Flasche geben… Mit solchen Gedanken schlafe ich ein und werde erst um acht Uhr von Victor geweckt. Anscheinend braucht er sein rundliches Bäuchlein gar nicht mehr so oft zu füllen, denn er hat fast zehn Stunden Nachtruhe [327] eingehalten. Doch kaum, dass er endgültig durchschläft, wird mich ein neuer Schreihals vor Tau und Tag aus dem Bett treiben.
    Wie fast immer trinke ich meinen ersten Kaffee ohne Patrick, überfliege die Zeitung, beobachte dabei den Kleinen beim Spiel mit seiner Rassel und sehe fast zufällig, dass der Briefträger schon erstaunlich früh seine Runde dreht. Vor Postboten sollte man sich nie genieren, ähnlich wie Ärzte bekommen sie ihre Klientel in allen möglichen Lebenslagen zu Gesicht. Ich sause also im Pyjama hinunter und fange ihn an der Gartenpforte ab. Der erwartete Umschlag mit dem Vermerk »Streng vertraulich« ist endlich dabei.
    Obwohl der Brief an Patrick gerichtet ist, öffne ich ihn sofort und ohne die geringsten Skrupel. Das Ergebnis habe ich befürchtet: Manuel ist mit 99,99%iger Sicherheit Victors Papa. Heute ist also der Tag, an dem wir meinen minderjährigen Schüler in die Mangel nehmen müssen – soll er in Gottes Namen noch hundert Jahre schlafen wie Dornröschen.
    Die Ruhe vor dem Sturm hat schon bald ein Ende, Patrick stapft die Treppe herauf. Er riecht gut nach Verbene, begrüßt mich und Victor mit einem Kuss [328] und sagt: »Erstaunlicherweise steht Manuel schon unter der Dusche. Ich geh mal schnell Brötchen holen. – Was machst du denn für ein bekümmertes Gesicht?«
    Ich überreiche ihm das bedeutsame Papier, er liest und schluckt: »99,99% – ob man sich darauf hundertprozentig verlassen kann?«
    »Nun glaub es doch endlich! Zweifel gibt es höchstens, wenn eineiige Zwillinge als Väter in Frage kommen.«
    »Also doch. Na warte, Bürschlein, das gibt noch Ärger!«
    »Nein«, sage ich. »Wahrscheinlich wird Mamas kleiner Mani noch viel ratloser sein als du.«
    »Willst du ihn am Ende noch bedauern? Aber wenn ich es mir genau überlege…«
    »…lag die Verantwortung einzig und allein bei Birgit«, sage ich. »Jetzt geh erst mal zum Bäcker, ich mache inzwischen das Frühstück.«
    Nach dem Brunch – denn so müssen wir unser Gelage wohl nennen – wird es ernst. Victor ist eingeschlummert, der Tisch abgeräumt, es gibt keine Gründe, noch länger über norwegische Fjorde zu plaudern. Auf Geheiß ist uns Manuel ins Wohnzimmer gefolgt und sieht seinen Vater erwartungsvoll an. Er ist in bester Laune und erwartet vielleicht [329] eine Erhöhung seines Taschengeldes, schließlich ist er vor kurzem 16 geworden.
    »Es ist sehr wichtig, was wir jetzt besprechen müssen«, beginnt Patrick und macht seinen Sohn neugierig.
    »Leg schon los, Paps«, sagt Manuel, streift die Flip-Flops ab und lümmelt sich aufs Sofa. Im Allgemeinen gibt er sich als Erwachsener und nennt seinen Vater beim Vornamen,
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