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Süden und der Straßenbahntrinker

Süden und der Straßenbahntrinker

Titel: Süden und der Straßenbahntrinker
Autoren: Friedrich Ani
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    D er Mann sah mich an und gleichzeitig an mir vorbei oder durch mich hindurch. Merkwürdigerweise hatte ich nicht den Eindruck, er würde schielen. Anscheinend stimmte mit seinen Augen etwas nicht, sie bewegten sich alles andere als synchron, und die Pupillen wirkten außerdem ungewöhnlich groß.
    Der Mann stand vor mir, die Hände in den Taschen seiner Cordhose, und schwitzte. Es war heiß an diesem dritten September, und die Luft in der Halle des Hauptbahnhofs, wo wir uns getroffen hatten, schmeckte klebrig. Und doch kam es mir vor, als schwitze der Mann nicht deswegen. Als schleppe er vielmehr einen glühenden Körper mit sich herum.
    Der Mann schien gleichermaßen hochgradig verwirrt und sich seiner Sache vollkommen sicher zu sein. Es war, als stünden zwei Personen vor mir. Und hätte der Mann mich gefragt, wie ich zu dieser Einschätzung komme – er selbst sehe sich nämlich keineswegs doppelt –, ich hätte keine plausible Antwort gewusst.
    Aber ich war überzeugt, dieser Mann, der sich mit dem Namen Jeremias Holzapfel vorgestellt hatte, log mich die ganze Zeit über an. Und zwar nicht, weil er mich bewusst täuschen wollte, sondern weil er nicht anders konnte. Weil er selbst nicht die geringste Ahnung hatte, was mit ihm vorging, warum er sich so verhielt, was genau er eigentlich von mir erwartete.
    »Ich hab Urlaub, Herr Holzapfel«, sagte ich.
    Das erklärte ich ihm bereits zum vierten Mal.
    »Können Sie was für mich tun?«, fragte er.
    Ich wusste nicht, was. Und meine Kollegen wussten es auch nicht. Bevor Volker Thon, der Leiter der Vermisstenstelle im Dezernat 11, wo ich als Hauptkommissar arbeite, mich anrief, hatte er zwei Tage lang versucht den Mann zu beruhigen. Er war Dienstag morgens plötzlich aufgetaucht und ließ sich nicht wieder abschütteln. Zunächst hatte Thon vorschriftsgemäß die Angaben des Mannes notiert, um einen Vermisstenwiderruf für das Computersystem des Landeskriminalamtes zu verfassen. Bald aber merkte er, dass die Aussagen des Mannes auf keinerlei vorhandenen Daten basierten und seine Beteuerungen offenbar Hirngespinste waren.
    Jeremias Holzapfel war mit der Absicht auf die Vermisstenstelle in der Bayerstraße gekommen, seine Rückkehr kundzutun. Nachdem er, wie er sagte, vier Jahre und sechs Monate verschwunden gewesen sei, teile er offiziell mit, dass er nicht länger vorhabe, seine Verwandten und Freunde über seine Lebensumstände im Unklaren zu lassen, und beabsichtige, von nun an in seiner Heimatstadt zu bleiben.
    »Löschen Sie meine Daten!«, hatte er zu den Hauptkommissaren Thon und Weber gesagt. »Es gibt keinen Grund mehr mich zu suchen.«
    Eine Stunde später war meinen Kollegen klar: Dieser Mann ist nie vermisst worden. Kein Mensch hatte in den vergangenen vier Jahren und sechs Monaten nach ihm fahnden lassen, weder in Bayern noch in einem anderen Bundesland. Über Jeremias Holzapfel existierte keine Akte, in den Systemen von LKA, BKA und unserer eigenen Direktion gab es für sein Verschwinden keinen Anhaltspunkt.
    Natürlich hatten meine Kollegen ihn nach Hause geschickt, angeblich wohnte er in einem Hochhaus mit der Adresse Theresienhöhe 6 c, das war im Westend, oberhalb der Theresienhöhe, auf der jedes Jahr das Oktoberfest stattfindet.
    Unter dieser Anschrift war Jeremias Holzapfel, wie meine Kollegen schnell herausfanden, tatsächlich gemeldet. Ihr Angebot, ihn dort hinzubringen, lehnte er ab.
    Drei Stunden später klingelte er erneut an der Eingangstür im Parterre des Dezernats. Er nannte einen anderen Namen und gelangte bis vor die verschlossene Glastür im vierten Stock. Dreist behauptete er gegenüber der jungen Freya Epp, die erst kurz zuvor ihren Dienst angetreten hatte, er habe einen Termin bei Volker Thon. Daraufhin blieb meinem Vorgesetzten nichts anderes übrig als sich noch einmal mit Holzapfels Geschichte zu beschäftigen, was ihm, wie ich mir gut vorstellen konnte, ein Höchstmaß an Disziplin abverlangte. Leute, die ihm den Nerv töteten, würde er jedes Mal am liebsten wegen Lebenszeitdiebstahls anzeigen. Dennoch gelang es ihm Holzapfel einzureden, seine Angaben seien selbstverständlich gespeichert worden und man werde der Tatsache, dass die Vermisstenanzeigen allem Anschein nach verschludert wurden, auf den Grund gehen und ihn über die Recherchen auf dem Laufenden halten.
    Holzapfel, sagte mir Thon am Telefon, habe sich bedankt und sei gegangen. Am nächsten Morgen um zehn rief er an und fragte, was es Neues in seiner Sache gebe. Im
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