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Kuckuckskind

Kuckuckskind

Titel: Kuckuckskind
Autoren: Ingrid Noll
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meistens zu Hause, spielt mit seinem Schneck, liest oder löst Sudokus; ich glaube, Sara hat ihm den Laufpass gegeben und sich Julian zugewendet, und Christina, seine Kreuzfahrt-Bekanntschaft, wohnt leider in Hamburg. Julians Großmutter strickte ihm einen neuen Schal aus Seidengarn, der allerdings schneeweiß ist und noch schneller schmutzig wird als sein Vorgänger.
    Nach und nach kamen weitere Details seiner verbotenen Eskapade ans Licht. Anfangs brach es Manuel fast das Herz, dass er kein zweites Mal mit [334] seiner schönen Lehrerin schlafen durfte, aber er sah die Unmöglichkeit einer solchen Beziehung ein und tröstete sich mit der gleichaltrigen Sara. Als Manuel schließlich hörte, dass Birgit vermisst wurde, fuhr er aus Anhänglichkeit täglich mit einer Wasserflasche am Tucher’schen Haus vorbei und goss die Geranien, die leider während seiner Seereise fast alle vertrockneten; die Einzige, die am Leben blieb, schmückt nun unsere Fensterbank. Geranien überwintern in den hiesigen Zonen – falls man sie überhaupt ganzjährig durchfüttern will – üblicherweise im Keller, aber wir machten eine Ausnahme. Diese bekam einen Ehrenplatz und ist inzwischen so hoch geschossen wie ihre Artgenossen in südlichen Ländern, die das ganze Jahr über im Freien stehen.
    Ich zeigte Manuel auch das sommerliche Foto, das Françoise mir geschickt hatte. Birgits rosa Muschelanhänger, den ich früher nie an ihr gesehen hatte, rührte ihn fast zu Tränen. Sowohl stolz als auch etwas verschämt gestand er, dass er dieses Schmuckstück Julians Oma geklaut und mit einem anonymen Gruß in Birgits Briefkasten geworfen habe. Sie hatte sein Geschenk zwar nie in der Schule, aber offenbar während ihres Aufenthaltes in Draguignan getragen.
    Wir haben mit Manuel vereinbart, dass er sein Versprechen auch einhält: Niemand soll vorläufig [335] erfahren, dass ihn Birgit verführt und zum Vater ihres Kindes gemacht hatte.
    Außer Patrick, Manuel, Isadora und mir weiß nur die Frau vom Jugendamt Bescheid, und sie steht unter Schweigepflicht. Im Augenblick hat Victor den Status eines Pflegekindes, aber der Antrag auf Adoption ist bereits gestellt und hat Aussicht auf Erfolg. Birgits Kusine wurde zum zweiten Mal ein wenig belogen, sie glaubt nun tatsächlich, dass Patrick der Kindsvater ist, und macht keine halbherzigen Ansprüche mehr geltend.
    Auch meine Mutter hält Patrick für einen Schwerenöter, billigt ihm aber mildernde Umstände zu. Schließlich verdankt sie ihm die Aussicht auf ein Enkelkind.
    Vor etwa vier Wochen stand zum letzten Mal ein Artikel über den Fall Tucher in unserer Zeitung. Tief im Bayerischen Wald scharrte ein Jagdhund in einer mit Erde bedeckten Mulde und förderte einen Frauenschuh zu Tage. Die DNA -Analyse ergab, dass es sich bei der Leiche um Birgit handelte, wodurch der Fall nun endgültig abgeschlossen ist. Ich dagegen werde über meine fatale Verstrickung und den Tod unserer Freunde vielleicht nie hinwegkommen. Bei jeder Freistunde im Lehrerzimmer muss ich an Birgit denken und werde wehmütig. Mutter Natur [336] sieht mir meine Trauer an der Nasenspitze an. Unlängst zitierte sie Stanislaw Jerzy Lec: Vor der Wirklichkeit kann man seine Augen verschließen, aber nicht vor der Erinnerung. Demnächst beginnt zwar mein Mutterschutzurlaub, doch Victors fröhliches Lachen wird mir meine tote Kollegin täglich ins Gedächtnis rufen.
    Als die Gerichtsmediziner den Leichnam freigaben, konnte Birgit endlich bestattet werden. Es ging zwar nicht ganz so zu wie auf Lady Dis Beerdigung, doch auf dem Friedhof hatte sich eine ungewöhnlich große Menge versammelt – das gesamte Kollegium, die treue Freundin Françoise Hurtienne, Schüler, Eltern, gute Bekannte und auch uns völlig Fremde. Birgits Schwester ließ sich durch ihren Sekretär entschuldigen und schickte einen gigantischen Kranz, auf dessen Seidenband eine goldene Inschrift gedruckt war: »Für meine geliebte Birgit von ihrer Schwester Kirsten«. Unser Religionslehrer und der Gecko hielten je eine Rede, in der sie nicht von Mord, sondern von einem tragischen Unglück sprachen. Zum Schluss sang der Schulchor eine traurige französische Weise und auf meine Bitte das schottische Lied von Loch Lomond: »…me and my true love shall never meet again…«
    Während der Trauerfeier saß ich mit Victor auf [337] dem Arm in der vordersten Reihe, schließlich ist die Tote seine Mutter; der Kleine liebt Musik und patschte beim Auftritt des Chores fröhlich in die
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