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Kuckuckskind

Kuckuckskind

Titel: Kuckuckskind
Autoren: Ingrid Noll
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Händchen. Manuel und Patrick hielten sich im Hintergrund. Gernot hatte zu meinem Ärger eine unpassend gekleidete Frau an seiner Seite, an der anderen meine Mutter.
    In der jetzigen Jahreszeit lohnt sich eine Bepflanzung des Grabes nicht, es wurde mit Tannengrün und weißen Chrysanthemen geschmückt, aber im Frühjahr werde ich Maiglöckchen pflanzen.
    Wo Steffen begraben wurde, wissen wir nicht. Niemand aus seiner großen Familie hat sich gemeldet oder gar nach Victors Verbleib gefragt; in ihren Augen wird das Kuckuckskind an allem Unglück schuld sein. Wahrscheinlich halten sie auch Birgit für eine Teufelin, die den Sohn und Bruder verhext und in den Wahnsinn getrieben hat.
    Inzwischen stellt sich die Frage, ob das Tucher’sche Haus samt Inventar verkauft oder vermietet werden soll. Victor wurde beim Standesamt als gemeinsames Kind des Ehepaares Tucher eingetragen und ist somit wohl der Alleinerbe; auf der Sparkasse scheint Birgit ebenfalls etwas Geld angelegt zu haben. Wenn alle Probleme endgültig geregelt sind, ist Prinz Victor Augustus wohl reicher als wir alle.
    [338] Falls sich Patrick scheiden ließe, würde ich ihn gern heiraten. Mein Liebster denkt über eine zweite Ehe eher pragmatisch – sollte es für die Adoption wichtig sein, dann ist er dazu bereit. Das bereits heftig strampelnde Kind in meinem Leib ist ein Mädchen. Immer noch kann ich mein Glück kaum fassen und werde ausnahmsweise keinen Vaterschaftstest anleiern. Patrick beschäftigt sich – im Gegensatz zu mir – Tag und Nacht mit schönen Vornamen. Da seine Frau bei der Namensgebung von Lenore und Manuel das Sagen hatte, will er diesmal nicht wieder zurückstehen. Fast noch mehr als ich freut er sich auf unsere Tochter. Wenn wir zu den Chorproben fahren und uns keiner hören kann, singen wir aus voller Kehle: Jauchzet, frohlocket!
    Zu meiner Überraschung erwies sich Patricks Frau letzten Endes als großzügig und hilfsbereit. Obwohl sie fast in Ohnmacht fiel, als sie die große Neuigkeit hörte, möchte sie gern für den Unterhalt ihres Enkelkindes sorgen, da Manuel wohl kaum dazu in der Lage ist. Demnächst kommt sie zu Besuch; unter Umständen werden wir sie sogar als Babysitterin einspannen, denn irgendwann möchte ich mit Patrick einen erholsamen Urlaub verbringen. Im Moment wäre mir sogar eine Woche im Wellnesshotel recht.
    Ob man uns als Kuckucksnest oder als [339] Patchworkfamilie bezeichnen soll, weiß ich nicht genau. Drei Generationen leben in der Scheffelstraße unter einem Dach – Vater Patrick, Sohn Manuel, Enkel Victor. Wenn im Frühling unsere kleine Tochter hinzukommt, ist sie Victors Tante. Für einen Außenstehenden herrschen undurchsichtige Verhältnisse. Es ist mir aber egal, was andere Leute denken könnten, denn ich bin so zufrieden und beschäftigt, dass ich keine Sudokus mehr anrühre.
    Im Garten hat Patrick hundert rosa Hyazinthenzwiebeln gesetzt, die mit den bereits vorhandenen Tulpen zur Geburt unseres Kindes blühen sollen. Mir kommen bei dem Gedanken an diese Pracht einige Gedichtzeilen von Ricarda Huch in den Sinn:
    Der Frühling kommt wieder mit Wärme und Helle,
Die Welt wird ein Blütenmeer.
Aber in meinem Herzen ist eine Stelle,
Da blüht nichts mehr.
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