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Kuckuckskind

Kuckuckskind

Titel: Kuckuckskind
Autoren: Ingrid Noll
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andere als rühmlich gewesen und hatte auch meinem Mann einige Narben zugefügt. Und ich bin seitdem regelrecht [9] süchtig geworden. Bei diesem Wort denkt man an Drogen oder Alkohol. Nein, darum geht es nicht, obwohl ich kurz nach meinem Auszug jeden Abend eine Flasche Wein leerte. Doch dieses Problem bekam ich schnell wieder in den Griff.
    Ich bin sudoku-süchtig. Inzwischen kennt ja fast jeder das Spiel mit neun Quadraten, bei dem es auf Konzentration und Logik ankommt. Das erste Rätselheft lag monatelang in meinem Arbeitszimmer herum, ohne dass ich es auch nur anrührte. Meine Mutter hatte es mir geschickt, und ich war eher verärgert als erfreut über ihr Geschenk. Rechnen lag mir nicht, wie ich dachte, doch später merkte ich, dass es darauf überhaupt nicht ankam.
    Immerhin steckte ich in den Pfingstferien – auf meiner ersten Städtereise als Single – das Heftchen ein. Bei dieser Gelegenheit wollte ich die beliebten Rätsel einmal ausprobieren und dann endlich wegwerfen. Doch o Wunder: Die stumpfsinnige Zeit im Airport und in der Luft verging beim Raten so schnell, wie es sich gehört – im Fluge.
    Die einsame Reise war zwar eine einzige Pleite, aber bereits am dritten Tag in Budapest kaufte ich mir ein neues Sudoku-Heft, und schon konnte ich nicht mehr damit aufhören. Die simplen Aufgaben für Anfänger ließ ich bald links liegen, die mittleren löse ich inzwischen perfekt. Nur die schweren [10] schaffe ich noch nicht mit dem Kugelschreiber, nehme lieber Bleistift und Radiergummi, um eine falsche Zahl verbessern zu können.
    Irgendwann wurde mir bewusst, dass ich den Anschluss an meinen Freundeskreis verlor, die Chor- und Yogastunden aufgab und die Klassenarbeiten viel zu lange unkorrigiert auf immer größeren Stapeln liegenließ. In jeder freien Minute greife ich nach einem Sudoku, kaufe Zeitungen und Illustrierte nicht mehr nach dem Inhalt, sondern nur nach der Qualität der Rätselangebote. Auch mein Computer, den ich früher wenig nutzte, dient mir zum Herunterladen immer neuer Variationen.
    Ich weiß selbst nicht, was ich eigentlich davon habe, wenn ich möglichst schnell und fehlerfrei mit dem Ausfüllen fertig werde. Ein Glücksgefühl stellt sich nie ein, eher das dringende Bedürfnis, sofort mit dem nächsten Sudoku zu beginnen. Ich habe ein schlechtes Gewissen bei meinem neuen Hobby, falls man es noch so nennen kann. Im Grunde schäme ich mich dafür, und ich mag keinem Menschen davon erzählen. Wen würde das auch interessieren? Als Deutschlehrerin fällt mir sofort die Zeile eines Gedichtes ein:
    [11] Du wirst vergehn, und Deiner Füße Spur
Wird bald kein Auge mehr im Sande finden.
    Eines Tages bemerkte ich während einer zäh sich ziehenden Deutschstunde, dass ein Schüler ganz ungeniert Zahl um Zahl in ein Sudoku eintrug. Hinterrücks näherte ich mich seinem Platz und schnappte mir das Blatt. Während ich die Klasse mit einer schriftlichen Aufgabe beschäftigte, füllte ich es vollständig aus und gab es dem Jungen am Ende der Stunde kommentarlos zurück.
    Ich habe Manuel zwar keinen Verweis erteilt, ihm aber bewiesen, dass ich schneller bin als er. In meinem Unterricht hat er es nie mehr gewagt, Zahlenreihen auszutüfteln, doch seitdem verbindet uns unsere geheime Leidenschaft. Schon länger war mir aufgefallen, wie geistesabwesend der pubertierende Junge ist. Meistens hängt er teilnahmslos in seinem Stuhl und zwirbelt mit der linken Hand eine Lockensträhne um den Zeigefinger.
    Im Lehrerzimmer wird oft getratscht, meistens über Belangloses. Zum Beispiel lassen sich meine männlichen Kollegen immer wieder abfällig über die kleinen Lolitas aus, wie sie nabel- und nierenfreie T-Shirt-Trägerinnen nennen. Vielleicht wollen sie ja durch ihre gehässige Kritik die eigene [12] Lüsternheit vertuschen. Ich mache mir lieber im Stillen Gedanken.
    Die Mode der Jugendlichen ist immer freizügiger geworden, nicht zuletzt, um die Erziehungsberechtigten zu provozieren. Tätowierungen, Piercings, Sticker, Brandings, herunterrutschende Hosen, zu enge, zu weite oder zu offenherzige Shirts, das reizt nicht nur die Mädchen, auch ein paar Jungen wollen auf ähnliche Weise auffallen. Andere Jugendliche laufen wie angehende Banker oder artige Klosterzöglinge herum. Am Ende wächst sich das alles aus. Die wadenlangen bestickten Inderkleider, die ich in meiner Schulzeit schön fand, gefielen leider auch meiner Mutter so gut, dass sie sich ebenfalls eins kaufte und sie mir damit gründlich verleidete.
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