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Kuckuckskind

Kuckuckskind

Titel: Kuckuckskind
Autoren: Ingrid Noll
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Vielleicht wäre das ja ein Tipp für geplagte Eltern, sich wie ihre Kinder tätowieren und löchern zu lassen, um es ihnen zu vergällen.
    In meinen Augen ist Manuel anders als die laute Clique, mit der er in der Pause herumalbert. Wie fast alle trägt er Jeans und Turnschuhe, aber außer einem überlangen Schal und einer winzigen kreisrunden Brille nichts Modisches und auch keinen Körperschmuck.
    Julian, sein bester Freund, verhält sich ähnlich. Wegen seiner Altstimme nennen ihn seine [13] Mitschüler »Tante«. Sein Organ ist im Stimmbruch, hört sich hoch und heiser an. Man könnte meinen, es sei eine ältere Frau, die da spricht. Vielleicht liegt es ja auch daran, dass Julian bei seiner Großmutter aufwächst und sich ihr angepasst hat. Seine Oma ist eine ungewöhnliche Frau. Sie gehört zu den Altgrünen, engagiert sich bei attac und wurde auf dem letzten Elternabend einstimmig (wie so oft ohne Gegenkandidaten) zur Sprecherin gewählt. Gleichmütig nahm sie die Wahl an und strickte dabei unbeirrt an einer schwarz-roten Jacke, die sie Lumberjack nennt. Ich hörte heraus, dass sie regelmäßig mit Julian und Manuel die Hausaufgaben durchgeht und sie gelegentlich zur Rebellion anstiftet.
    Wieso sich Manuel gerade mit Julian angefreundet hat, ist unschwer zu erraten. Es wird diese wunderliche Großmutter sein, die ihn fasziniert. Sie ist es auch, die für ihren Enkel und seinen Freund die noblen Schals gestrickt hat: nicht aus Wolle, sondern aus Seidengarn in sehr aparten Farben.
    Manchmal möchte ich zu gern über Manuels dunklen Lockenschopf streichen, ob sich nicht vielleicht ein Ansatz von kleinen Hörnern finden lässt. Er erinnert mich an ein Bild im Schlafzimmer meiner Mutter: einen bocksbeinigen Pan, der sich im Schilf an die Nymphen heranmacht.
    [14] Ich könnte durchaus seine Mutter sein. Aus irgendeinem Grund lebt die leibliche Mama in einer anderen Stadt. Manuels Vater hat mir das auf einem Elternsprechtag erzählt. Im Gegensatz zu seinem Sohn ist er eine Spur untersetzt und vielleicht etwas älter als die meisten Väter. An beiden Händen trägt er Ringe. Mit dem Charme seines Sprösslings kann er zwar nicht ganz mithalten, aber er ist äußerst liebenswürdig.
    Klassenlehrer müssen sachlich bleiben. Über Manuels Verträumtheit im Unterricht sprach ich nicht mit seinem Vater. Es ging bei unserer Unterredung einzig um die schulischen Leistungen, die in manchen Fächern dürftig sind. Ob ich seinem Sohn Nachhilfeunterricht in Französisch geben könnte, fragte er. Ich lehne das bei Schülern, deren Klassenlehrerin ich bin, grundsätzlich ab, weil leicht eine allzu private Atmosphäre entstehen und man mir am Ende Begünstigung vorwerfen könnte. Außerdem geht es keinen etwas an, wie ich wohne. Manuels Vater leuchtete meine ablehnende Antwort nicht ganz ein, er konnte mir aber auch wenig entgegenhalten. Ich empfahl ihm eine Kollegin.
    Birgit übernahm die zusätzliche Einpaukerei nicht ungern. Ich erinnere mich noch genau, wie ich ihr Manuel ans Herz legte. Es war ein warmer [15] Frühsommer, und Birgit war bereits appetitlich gebräunt und duftete nach Maiglöckchen. Sie trug ein helles neues Kleid, dessen provokante Korsage die Männer wohl unwillkürlich ans Aufnesteln denken ließ. Zum Glück saßen wir nur auf ihrem luftigen Balkon. Am nächsten Tag hatte sie das Miederkleid allerdings auch in der Schule an, wo die Kollegen Stielaugen machten.
    Wir sind im gleichen Alter, doch ich bin geschieden, während Birgit mit Steffen Tucher verheiratet ist. Unsere Männer verstanden sich so gut, dass wir früher gemeinsame Urlaube in der Provence verbrachten, wo wir Lehrerinnen vor Gernot und Steffen mit flüssigem Französisch glänzten. Unter uns gesagt ist mein Wortschatz allerdings größer als der meiner Kollegin. Doch mit den gemeinsamen Unternehmungen war es nach meiner Scheidung leider vorbei, denn welche Alleinstehende mag schon gern mit einem Paar verreisen?
    Fast bin ich ein wenig eifersüchtig, dass Birgit von nun an zweimal in der Woche meinen kleinen Faun in ihrem Arbeitszimmer sitzen hat.
    »Na, läuft es jetzt besser?«, frage ich ihn eines Tages, als Manuel nach der Deutschstunde noch als Einziger im Klassenzimmer herumtrödelt.
    [16] Er sieht mich verständnislos an.
    »Ich meine, ob die Nachhilfe in Französisch etwas bringt?«, erkläre ich.
    Manuel zuckt mit den Schultern. »Das weiß ich noch nicht«, meint er und kramt weiter in seinen Heften. »Sie haben das Sudoku sehr schnell
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