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Kuckuckskind

Kuckuckskind

Titel: Kuckuckskind
Autoren: Ingrid Noll
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gelöst«, sagt er schließlich, wird rot und grinst verlegen. »Anscheinend haben Sie Übung!«
    Ich lege den Finger an die Lippen. »Das bleibt unser kleines Geheimnis«, sage ich und grinse verschwörerisch zurück.
    Manuel rührt sich immer noch nicht von der Stelle.
    »Die Pause ist bald vorbei«, sage ich und greife nach meiner Tasche. »Ein bisschen frische Luft schadet dir ganz bestimmt nicht. Oder gibt es noch etwas, was du loswerden willst?«
    »Wenn Sie schon so direkt fragen«, sagt er und verstummt wieder.
    Ich warte.
    »Wie heißt der Mann von Frau Tucher mit Vornamen?«, fragt er.
    »Er heißt Steffen«, sage ich, »warum willst du das wissen?«
    »Nur so«, sagt er und geht.
    [17] Als kleines Kind habe ich oft die Großeltern besucht oder wurde bei ihnen abgeladen. Beide waren zu alt, um meinen Bewegungsdrang nach langem Stillsitzen und ausgiebigem Vorlesen zu befriedigen. Spaziergänge zum Spielplatz waren ihnen zu weit, aber sie dachten sich etwas aus, um mich auch körperlich zu ermüden. Ihr großer chinesischer Teppich war das blaue Meer, die eingestreuten Ornamente und Blumenmedaillons ragten aus dem Wasser hervor. Stundenlang hopste ich von einer dieser Inseln zur anderen und fiel dabei gelegentlich mit einem spitzen Schrei ins Meer. Mein Opa rettete mich dann vor dem Ertrinken und trug mich aufs Festland, wo die Oma bereits mit Russischbrot und Kakao auf mich wartete. Von Sprudel bekäme man Läuse im Bauch, behauptete sie, wenn ich nach Cola verlangte.
    Noch als ich mit Gernot zusammenlebte, ertappte ich mich manchmal bei dem Versuch, den ererbten blauen Teppich nur auf den bunten, inzwischen ziemlich abgewetzten Mustern zu betreten. Auch bei unseren Fünftklässlern bemerke ich gelegentlich, dass sie auf den Schulkorridoren die Fugen der schwarz-grünen Fliesen nicht berühren. Falls doch, drohen wohl schlechte Noten oder ähnliches Unglück. Als ich sogar Manuel bei diesem Spiel entdeckte, musste ich lächeln. Er fühlte sich völlig unbeobachtet, während seine Schritte mal kleiner, mal [18] größer ausfielen. Er ist noch ein Kind, dachte ich und fand ihn hinreißend.
    Die meisten Pädagogen haben selbst eine Familie. Gernot und ich wünschten uns auch ein Baby, aber es wollte und wollte nicht klappen. Letzten Endes war dies wohl auch der Grund für unser allmähliches Auseinanderdriften. Der jahrelange Druck, Sex nach dem Kalender praktizieren zu müssen, hat uns zermürbt; schließlich resignierten wir und ließen es ganz bleiben. Meine Gynäkologin konnte keine Ursache finden, warum ich kinderlos blieb, und auch bei Gernot sah es nicht aussichtslos aus.
    Birgit hat ebenfalls keine Kinder, aber bei ihr ist es angeblich gewollt. Gelegentlich redet sie von Adoption und davon, dass es heutzutage genug Kriegswaisen gebe. Entsprechende Schritte hat sie aber nie unternommen, und ich kann mir kaum denken, dass ihr Mann dafür zu begeistern wäre. Bei unseren zurückliegenden Urlauben wurde dieses Thema immer totgeschwiegen.
    Birgit und ich engagieren uns für unsere Schüler leidenschaftlicher als die meisten Kollegen. Bei mir liegt es mit Sicherheit am unerfüllten Kinderwunsch, bei Birgit mag es ähnlich sein, nur gibt sie es nicht zu. Überhaupt weiß ich wenig über ihre Gefühle, weil wir meistens nur über Alltagsdinge [19] sprechen oder ein bisschen blödeln. Wenn ich niedergeschlagen bin, gehe ich ihr eher aus dem Weg.
    »Macht Manuel Fortschritte?«, frage ich, als wir eine gemeinsame Freistunde im Lehrerzimmer verbringen.
    Birgit nickt, schlürft erst einen Rest Kaffee und behauptet dann: »Aber klar doch, ich tu schließlich was für mein Geld! Er sagt jetzt immer ganz artig: › J’ai compris, Madame!‹ , wenn er etwas kapiert hat.«
    »Redet er manchmal über private Probleme?«, frage ich sie weiter aus.
    »Nicht viel. Aber du weißt ja sicher, dass seine Eltern getrennt sind. Keine Ahnung, ob Manuel darunter leidet. Der Vater soll jedenfalls völlig in Ordnung sein. Leider ist er zurzeit arbeitslos.«
    »Er ist Chemiker, nicht wahr?«
    Birgit nickt, während sie in ein dick mit Teewurst beschmiertes Laugenhörnchen beißt. Seit ich sie kenne, isst sie fettreich, treibt keinen Sport und bleibt trotzdem schlank. Dann greift sie nach einer Papierserviette, wischt sich den Mund ab und will plötzlich wissen: »Wie nannte man eigentlich früher einen metrosexuellen Mann?«
    »Ganz altmodisch vielleicht Beau oder Geck«, sage ich. »Oder auch Stenz, Stutzer, Snob, Gentleman oder
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