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Kuckuckskind

Kuckuckskind

Titel: Kuckuckskind
Autoren: Ingrid Noll
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Dandy? Reicht dir die Auswahl?«
    [20] »Anja, du bist unschlagbar!«, sagt sie. »Ich wette, so viele Synonyme stehen noch nicht mal im blauen Duden! Steffen hat mich gestern gefragt, was der Ausdruck heißt, und ich konnte es nur umständlich erklären: Der Lebensstil nicht schwuler Männer, die sich auf weibliche Art besonders fein machen und…«
    »Das trifft es doch haargenau«, sage ich. »Um welchen Mann handelt es sich denn?«
    »Um den Gecko natürlich«, flüstert sie, und wir müssen beide kichern. Diesen Spitznamen haben wir dem neuen Schulleiter unseres Heinrich-Hübsch-Gymnasiums verpasst.

[21] 2
    Am Anfang lief die Stunde wider Erwarten ganz gut. Meistens interessieren sich unsere Schüler herzlich wenig für Barockdichtung, aber schließlich kann man den Lehrplan nicht völlig ignorieren. Das Gedicht Abend von Andreas Gryphius ist ein harter Brocken, und ich hatte mich auf eine gelangweilte und unaufmerksame Klasse eingestellt. Aber diesmal hatte ich zwei Tage zuvor die Arbeitsbogen für den Unterricht ausgeteilt, weil ich zu faul war, sie nach dem Kopieren in mein Fach zu bringen oder in meiner ohnehin vollgestopften Tasche mit nach Hause zu nehmen. Das war ein Fehler, aber wer konnte schon ahnen, dass genau dieser Text im Internet bestens interpretiert und für den Unterricht aufbereitet worden war.
    Der schnelle Tag ist hin,
die Nacht schwingt ihre Fahn
    Fast alle meldeten sich zu Wort. »Nacht« sei gleichbedeutend mit Tod, das wollten sie unbedingt anbringen. Und so ging es weiter. Sie wussten, dass es [22] sich um ein Sonett handelte, sie sprachen vom Dreißigjährigen Krieg, als wären ihre Eltern dabei gewesen, warfen mit Begriffen wie »Vanitas« um sich und schilderten die Hoffnung leidgeprüfter Menschen auf ein besseres Leben im Jenseits. Ich konnte kaum so schnell fragen, wie die Antworten kamen. Vierzehnjährige Schüler, denen man sonst die Würmer aus der Nase ziehen musste, verblüfften mich mit profundem Wissen.
    Nach dieser außergewöhnlichen Deutschstunde seufze ich mit Gryphius: »Wie ist die Zeit vertan!«
    Aber Birgit sieht das ganz anders. Wir hocken wieder auf unseren unbequemen, orange lackierten Holzstühlen im Lehrerzimmer und trinken kalten Tee. Einmal mehr ist die Kaffeemaschine defekt. »Ist doch egal, wo sie es abkupfern«, meint sie, »immerhin haben sie sich Mühe gegeben. Und wahrscheinlich wissen sie jetzt eine ganze Menge über das barocke Feeling!«
    Es ist ein altes Spiel zwischen Birgit und mir, dass wir an Ausdrucksweisen herummäkeln.
    »Liebste Birgit, Anglizismen wie ›Feeling‹ würde ich meinen Schülern niemals durchgehen lassen. Und wann kapierst du endlich, dass ich diesen Stoff erarbeiten und mir nicht von zweiundzwanzig Papageien vorbeten lassen will?«
    [23] »Liebste Anja, was redest du für Unsinn! Papageien können zwar nachplappern, aber bestimmt nicht beten!«
    »Doch!« Ich richte meinen gespitzten Schnabel himmelwärts und falte meine Krallen, um einen betenden Papageien darzustellen, und wir kichern wieder einmal zu laut. Der strebsame Referendar in der hintersten Ecke bedenkt uns mit einem vorwurfsvollen Blick. Zum ersten Mal seit Monaten bin ich wieder etwas heiter gewesen, deswegen ist es mir egal.
    Die meisten Kollegen hier im Raum sind nicht gut gelaunt, denn uns erwartet eine Konferenz, die müder machen wird als fünf Stunden Unterricht. Birgit und ich haben beide einen Stoß Grammatiktests vor uns liegen, die wir eigentlich jetzt korrigieren sollten.
    »Ich geh noch mal auf den Balkon«, sagt Birgit. Seit es kein Raucherzimmer mehr gibt, stellen sich qualmende Lehrer gelegentlich auf einen kleinen Austritt, der von keiner Seite einsehbar ist. Ich folge ihr, weil man dort ungestört reden kann.
    »Dein Manuel hat übrigens die längsten Wimpern, die ich bei einem Jungen je gesehen habe«, sagt Birgit und inhaliert ihre blaue Gauloise .
    »Ja, er ist wirklich ein hübsches Kerlchen«, sage ich. »Die Ohren sind allerdings ein bisschen groß [24] geraten. Neuerdings scheint sich die magersüchtige Vanessa aus der Zehnten für ihn zu interessieren, leider ist sie einen Kopf größer als er.«
    »Große Ohren sind ein Zeichen von Intelligenz. Samuel Beckett hatte ebenfalls gigantische Lauscher«, behauptet Birgit, die auch Englisch unterrichtet.
    Wir schweigen eine Weile und schauen den Wolken nach. Ich sehe öfter auf die Uhr, denn vor der Konferenz muss ich unbedingt noch auf die Toilette.
    »Heute hat sich ein Schüler aus der
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