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Süden und das Geheimnis der Königin

Süden und das Geheimnis der Königin

Titel: Süden und das Geheimnis der Königin
Autoren: Friedrich Ani
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    E s war die blutigste Nacht, die das Dorf je erlebt hatte. Und niemand – nicht der Verwalter, nicht der Bürgermeister, nicht der Priester – hatte eine Erklärung, wie es zu dem Massaker kommen konnte. Über den kiesbedeckten Innenhof des ehemaligen Gutshofes zogen sich meterlange Blutspuren, Stühle waren umgestürzt, der Boden übersät von abgerissenen Blättern, Farnen und Gräsern. Die windige Juninacht war erfüllt von atemloser Stille. Sogar die Grillen hatten aufgehört zu zirpen. Und trotz des Windes war im weitläufigen, dicht bewachsenen Park kein Rascheln zu hören. Es war, als hätten die siebzehn Opfer, die in der Nähe des Teichs lagen, jedes Geräusch mit in den Tod genommen. Im bleichen Licht, das aus den Fenstern im Erdgeschoss in den Hof fiel, standen reglos fünf Männer. Einer von ihnen war ich, ein anderer mein Freund und Kollege Martin Heuer, der dritte Roderich Hefele, der deutsche Besitzer des zu einem Hotel umgebauten Anwesens, der vierte Luigi Fadini, der Verwalter, und der fünfte ein Einheimischer, der Friauler Severino Aroppa, den Martin und ich bis kurz vor dem Unglück vernommen hatten. Keiner von uns tat etwas. Im Haus hielten sich Kinder und Frauen auf, unter ihnen die Ehefrau und Tochter des Besitzers, ein paar Hotelgäste und meine Kollegin Sonja Feyerabend, die im Gegensatz zu Martin und mir Urlaub und die Gelegenheit ergriffen hatte, uns in dieses friulische Dorf zehn Kilometer südlich von Udine zu begleiten.
    Das hieß, sie hatte Martin Heuer im Auto chauffiert, während ich mit dem Zug angereist war. Bei der Fahrt durch den kilometerlangen Tauerntunnel wäre ich an Klaustrophobie gestorben. Und hätte Sonja eine andere Route genommen, wären wir mindestens doppelt so lang unterwegs gewesen.
    Vier Tage nach meiner Ankunft ereignete sich die Blutnacht von Tissano, genau zu jenem Zeitpunkt, als Martin und ich kurz davor standen, den Fall, an dem wir seit so langer Zeit gearbeitet hatten, endlich abzuschließen. Am zehnten Juni war ich am Bahnhof S. Stefano Udinese aus dem Zug gestiegen, verschwitzt und durch und durch mürrisch. Die Sonne brannte auf mich herunter und ich war der einzige Mensch weit und breit. Sonja und Martin hatten versprochen, mich abzuholen, ich hielt vergebens nach ihnen Ausschau. Die unbefestigte Straße, die an dem verfallenen Bahnhofsgebäude vorbeiführte, kochte vor Hitze. Kein Auto, kein Radfahrer, kein Traktor, nichts, nirgends, nur vor Grün strotzende Wiesen, in der Ferne ein Pappelwald, auf der anderen Seite der Straße die trostlose Mauer eines Friedhofs. Der Zug war so schnell verschwunden, als wäre er innerhalb von Sekunden in der Mittagsglut verdampft. Was mache ich hier?, dachte ich. Was mache ich bloß hier?
    Am Wartehäuschen, einem würfelförmigen Gebilde aus billigen Metallstützen, fehlten die Scheiben. Die Fensterläden am einstöckigen Bahnhof waren geschlossen. Reste eines Fahrplans hingen an einer verwitterten Tafel. Unter einem schmalen, schmutzigen Wellblech verlief eine Leiste mit Kleiderhaken an der Wand, davor eine rechteckige Konstruktion aus Eisenstangen, an denen das Dach befestigt war. Welchen Zweck dieses Kabuff erfüllt hatte, blieb mir ein Rätsel.
    Außerdem war es zu heiß, um über solche Dinge nachzudenken. Die einzige Frage, die ich zu klären hatte, war, in welcher Richtung man das Dorf erreichte. Allerdings wäre es interessant gewesen zu erfahren, wer die zwei rotweißen Schranken dirigierte und wo der Wärter sich aufhielt. Das Bahnhofsgebäude sah aus, als hätte seit Jahren kein Mensch darin gearbeitet. Ich stand am Straßenrand, die blaue Reisetasche neben mir, es roch nach Gras und Blüten. An der Schmalseite des Hauses hing ein blaues Schild, weiß umrandet, auf dem stand in weißer Schrift: »S. Stefano Udinese«. Dann fiel mein Blick auf das Vordach über dem verriegelten Eingang. Unter dem mittleren Fenster im ersten Stock war ebenfalls ein blaues Schild angebracht, auf das jemand in weißer Schrift mit der Hand geschrieben hatte: »Tissano«. Vor dem Wort war ein Pfeil, der nach rechts zeigte. In die Richtung, in die die Gleise führten. Aber ich vermutete, gemeint war, man müsse links am Gebäude vorbeigehen und dann der Straße folgen, die nach wenigen Metern abbog und hinter einem Baum verschwand.
    Und tatsächlich befand sich vor dem Baum, der sich als üppiger Strauch herausstellte, das Ortsschild. Neben einem Hinweis auf Tempo fünfzig zeigte ein zweites rundes Schild eine rot
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