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Mit deinen Augen

Mit deinen Augen

Titel: Mit deinen Augen
Autoren: Kaui Hart Hemmings
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    D ie Sonne scheint, Hirtenstare singen, Palmen wie gen sich im Wind, aber es hilft alles nichts. Ich bin im Krankenhaus, und ich bin gesund. Mein Herz schlägt genau so, wie es soll. Mein Gehirn verschickt blitzschnell klar verständliche Botschaften. Meine Frau sitzt aufrecht in ihrem Krankenhausbett, wie jemand, der im Flugzeug schläft: starr und reglos, den Kopf leicht zur Seite geneigt, die Hände im Schoß.
    »Sollen wir sie nicht hinlegen?«, frage ich.
    »Warte«, sagt meine Tochter Scottie und macht mit ihrer Polaroidkamera ein Foto von ihrer Mutter. Sie fächelt sich mit dem Foto Luft zu. Ich drücke den Knopf seitlich am Bett, damit sich der Oberkörper senkt. Als sie fast flach auf dem Rücken liegt, lasse ich den Knopf wieder los.
    Joanie liegt seit dreiundzwanzig Tagen im Koma, und in absehbarer Zeit, sobald ich das endgültige Urteil unseres Arztes gehört habe, muss ich gewisse Entscheidungen treffen. Das heißt, eigentlich brauche ich nur zu erfahren, was er über Joanies Zustand zu sagen hat. Entscheiden muss ich nichts, denn Joanie hat eine Patientenverfügung. Wie immer trifft sie ihre Entscheidungen selbst.
    Heute ist Montag. Dr. Johnston sagte, am Dienstag würden wir alles besprechen, und dieser Termin macht mich so nervös, als wäre es ein Rendezvous, ein Date. Ich bin völlig ratlos - wie soll ich mich verhalten, was soll ich sagen, was soll ich anziehen? Ich übe meine Fragen und Antworten, aber der Text passt nur für die positiven Szenarien. Plan B habe ich noch nicht geprobt.
    »Da«, sagt Scottie. Sie heißt tatsächlich Scottie. Joanie fand es cool, sie nach Scott, Joanies Vater, zu nennen. Ich bin da etwas anderer Meinung.
    Ich betrachte das Foto. Es sieht aus wie eins dieser Witzbilder, die man gern von Schlafenden macht. Keine Ahnung, wieso wir solche Aufnahmen so lustig finden. Wenn du schläfst, kann man alles mit dir anstellen . Das ist die Botschaft, glaube ich. Siehst du, wie schutzlos du bist? Du kriegst überhaupt nichts mit . Allerdings ist es so, dass Joanie auf dem Bild nicht einfach nur schlafend daliegt. Da ist der Tropf und noch etwas, was man Endotrachealtubus nennt, so ein dünner Plastikschlauch, der vom Mund zu einem Beatmungsgerät führt, zur Sicherung der Atemwege. Sie wird auch über einen Schlauch ernährt und bekommt auf diesem Weg ihre Medikamente, so viele, dass sie für ein ganzes Fidschi-Dorf reichen würden. Scottie dokumentiert unser Leben für den Sozialkundeunterricht. Hier ist Joanie, im Queen’s Hospital, die vierte Woche im Koma, einem Koma, das auf der Glasgow-Skala bei 10 liegt und auf der Rancho-Los-Amigos-Skala bei III. Sie hat an einem Motorbootrennen teilgenommen und wurde bei achtzig Meilen in der Stunde vom Boot katapultiert, aber ich glaube, sie kommt durch.
    »Sie reagiert auf Stimuli nicht gerichtet, sondern nur mit ungezielter Abwehr. Gelegentlich sind ihre Reaktionen allerdings spezifisch, wenn auch abgeschwächt.« Das hat mir ihre Neurologin erklärt, eine junge Frau, deren linkes Auge zuckt und die so schnell spricht, dass man kaum Fragen einschieben kann. »Ihre Reflexe sind begrenzt und gleichförmig, unabhängig davon, welche Schmerzreize sie erreichen«, sagt sie. In meinen Ohren klingt das alles nicht gerade positiv, aber man hat mir versichert, dass Joanie sich gut hält. Wie gesagt, ich denke ja auch, dass sie es schafft und eines Tages wieder normal funktioniert. Bei solchen Dingen habe ich in der Regel recht.
    »Warum hat sie an dem Rennen teilgenommen?«, wollte die Neurologin wissen.
    Die Frage verwirrte mich. »Um zu gewinnen, nehme ich an. Um als Erste ins Ziel zu kommen.«

    »Stell das bitte ab«, sage ich zu Scottie. Sie klebt das Foto in ihr Heft und macht dann mit der Fernbedienung den Fernseher aus.
    »Nein, ich meine das da.« Ich deute auf die Szenerie jenseits des Fensters - Sonne und Bäume und Vögel, die auf dem Rasen von Krümel zu Krümel hüpfen, die ihnen Touristen und überspannte alte Damen hinwerfen. »Bitte, stell das ab. Es ist grauenvoll.« In den Tropen darf man nicht jammern. Ich wette, in den Großstädten kann man mit grimmiger Miene durch die Straßen trotten - und niemand fragt einen, was los ist, kein Mensch sagt, man soll doch lieber lächeln. Aber hier finden alle, wir müssen froh und dankbar sein, dass wir auf Hawaii leben, denn Hawaii ist das Paradies. Zurzeit kann mir das Paradies gestohlen bleiben.
    »Ekelhaft«, brummt Scottie. Sie zieht den Lamellenvorhang zu, sodass die ganze
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