Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kuckuckskind

Kuckuckskind

Titel: Kuckuckskind
Autoren: Ingrid Noll
Vom Netzwerk:
Apotheke einen Test besorgen, der ausnahmsweise nicht zur Klärung der Vaterschaft dienen soll.
    »Demnächst lasse ich meinen Pferdeschwanz abschneiden«, verkünde ich, denn es soll sich einiges in [322] meinem Leben verändern. »Vielleicht ist ein kurzer Haarschnitt ein Neubeginn.«
    »Tu, was du für richtig hältst«, sagt Patrick, »aber ich werde meine Haare wieder wachsen lassen, für einen Hausmann ist ein Zopf goldrichtig. Einverstanden?«
    Mir kommen seine Worte irgendwie prophetisch vor. Patrick trägt fast an jedem Finger einen Ring, ich vermeide auffälligen Schmuck. Unsere Rollen sind schon längst vertauscht – ich verdiene das Geld, er kümmert sich um Haushalt und Nachwuchs. Auch Isadora überweist einen monatlichen Betrag.
    Der Schwangerschaftstest war positiv, aber noch schweige ich wie ein Grab und wage nicht, ein Freudengeschrei anzustimmen. Erstens ist dieses vorläufige Resultat noch wackelig, zweitens will ich abwarten, bis wir über Victors Herkunft Bescheid wissen.
    Seltsamerweise habe ich das dringende Bedürfnis, meine Mutter anzurufen, doch was, wenn ich sie ein paar Wochen später enttäuschen müsste? Trotzdem, irgendwann halte ich es nicht mehr aus. »Mutter, es gibt etwas Neues«, beginne ich.
    »Du bist schwanger«, antwortet sie.
    Ich bin völlig verblüfft und kriege keinen Ton mehr heraus.
    »Ich höre es deiner Stimme an«, erklärt sie, »aber [323] es ist sicher noch zu früh, um die frohe Botschaft an Tante Nelly weiterzugeben. Was sagt Patrick dazu?«
    »Er weiß es nicht«, sage ich, »bis jetzt war ich noch gar nicht beim Arzt. Aber ich musste mit irgendeinem Menschen reden…«
    »Und dieser Mensch ist deine Mutter«, sagt sie. »Seit deinem Abitur hast du mich nicht mehr so glücklich gemacht! Alle meine Freundinnen haben bereits Enkelkinder.«
    Dann fängt sie an zu weinen, und ich verabschiede mich. Ob sie auf der Stelle Spielzeug kauft oder sich ein Glas Sekt genehmigt?
    Gerade ist Manuel zurückgekommen, und bis jetzt ist immer noch keine Post eingetroffen. Natürlich weiß ich, dass ein Labor etwas länger braucht, wenn anderes Material als die bewussten Wattestäbchen eingeschickt wurde. Teurer ist es ebenfalls, doch das werde ich verkraften. Patrick hat seinen Sohn vom Bahnhof abgeholt, ich habe unterdessen den Tisch gedeckt und Victor gewickelt.
    Der Zug scheint pünktlich gewesen zu sein, Patrick und Manuel laden das Gepäck aus dem Auto und nähern sich der Haustür. Der Junge sieht gut aus, von der Seeluft gebräunt. Ich verlasse meinen Ausguck und werde herzlich begrüßt.
    [324] »Wo ist der Schneck?«, fragt Manuel als Erstes, eilt ins Wohnzimmer und umarmt den Kleinen.
    Patrick wirft mir einen vielsagenden Blick zu. Wir beobachten beide mit Argusaugen, ob man irgendwelche Schlüsse aus diesem Wiedersehen ziehen kann. Dann versammeln wir uns samt Victor-Augustus-Bärenschneck, der jetzt gelegentlich im Hochstühlchen sitzen darf. Wir löffeln Patricks berühmten Möhreneintopf und hören uns an, was der Kreuzfahrer alles zu erzählen hat.
    »Da gab es eine Frau an unserem Tisch, die hat im Laufe ihres langen Lebens mehr Seemeilen hinter sich gebracht als der Kapitän«, sagt Manuel. »Hm, das schmeckt hier ja tausendmal besser als die schleimigen Austern, die mir Isa aufgezwungen hat. Gleich bei der ersten Mahlzeit habe ich zum Glück ein nettes Mädchen kennengelernt, sonst wäre es echt boring geworden. Christina und ich waren die einzigen Schüler an Bord.«
    »Wie oft musste deine Mutter denn auftreten?«, fragt Patrick.
    »Insgesamt viermal. – In den Nächten wurde es nie richtig dunkel«, fährt Manuel atemlos fort. »In Reykjavik haben wir in heißen Quellen gebadet und…«
    »Wer ist wir?«, frage ich.
    »Meine Freundin Christina und ich«, sagt [325] Manuel treuherzig. Patrick schaut mich zum zweiten Mal bedeutungsvoll an. Sein Sohn, der reinste Casanova! Was wird Sara dazu sagen? Manuel plaudert, mampft, trinkt ein Glas Rotwein und will uns nach dem Dessert die Fotoausbeute zeigen. Während Patrick seinem Bärchen die Flasche gibt, decke ich den Tisch ab, und Manuel speist die Aufnahmen seiner Nordlandreise in den Laptop seines Vaters ein.
    Kolonien von Seevögeln auf der Insel Grimsey langweilen uns mindestens zehn Minuten. Manuel zeigt uns Dreizehenmöwen, Papageientaucher, Küstenseeschwalben und Sturmvögel. Wenn man selbst nicht mitgefahren ist, interessiert man sich allerdings eher für menschliche Gestalten. Die Passagiere sind im
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher