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Böser Bruder, toter Bruder

Böser Bruder, toter Bruder

Titel: Böser Bruder, toter Bruder
Autoren: Narinder Dhami
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Eins
    Montag, 10. März, 7.51 Uhr
    Ein ganz normales Bild: eine Familie montags beim Frühstück, bevor die Kinder zur Schule gehen.
    Die Menschen in diesem Bild sind allerdings nicht normal. Unsere Mutter stürzt sich gerade kopfüber in eine ihrer manischen Phasen, die ihren wochenlangen Depressionen folgen. Sie wuselt in der Küche herum und plappert unaufhörlich. Sie hat wieder eine neue Idee: Sie will im Garten Hühner halten, um sich das Geld für die Eier zu sparen. Ich mag keine Eier, Jamie isst keine, und Mum hat eine Allergie gegen Federn.
    Mein Zwillingsbruder sitzt mir gegenüber. Er isst nicht, spricht nicht und sieht weder mich noch Mum an. Er starrt düster auf den Küchenboden, versunken in seine eigene Welt. Jamie will mit Mum und ihren bizarren Macken, mit ihren emotionalen Berg-und-Tal-Fahrten schon seit Langem nichts mehr zu tun haben. Die beiden haben keine Beziehung zueinander. Jamie und ich standen uns bis vor Kurzem sehr nahe, aber diese enge Verbundenheit löst sich auf. Jetzt scheinen wir nur noch zu streiten. Ich kann mich nicht mehr wie früher auf ihn verlassen. Und manchmal sagt er Dinge, die mir Angst machen.
    Ich heiße Mia. Ich bin der Kitt, der dieses Schiff zusammenhält, auch wenn wir sinken. Und glaubt mir, wir sinken schnell.
    Mein Vater gehört nicht zu diesem Bild. Er hat Mum verlassen, bevor wir geboren wurden, und sich kurz danach von ihr scheiden lassen. Wir sind ihm noch nie begegnet und kennen nicht einmal seinen Namen. Mum weigert sich, ihn uns zu sagen.
    »Wir könnten ja Zimmer vermieten«, plappert Mum munter weiter. Sie schleppt eine Trittleiter vor die hohen Regale, zieht Pfannen und Töpfe heraus und stellt sie auf die Arbeitsfläche. »Diese Küche braucht unbedingt eine Grundreinigung. Und ich habe mir überlegt, dass wir den Dachboden ausbauen könnten. Da oben ist jede Menge Platz.«
    »Oh Gott!«, murmelt Jamie. Das Erste, was er heute Morgen von sich gegeben hat.
    »Das ist bestimmt keine schlechte Idee, Mum«, sage ich beschwichtigend. »Das Geld könnten wir gut gebrauchen.«
    Jamie verdreht die Augen und wirft mir einen verächtlichen Blick zu, weil ich Mum auch noch ermutige. Aber ich weiß doch, dass es bei uns weder Untermieter auf dem Dachboden noch Hühner im Garten geben wird. Wenn Mum sich endlich zu irgendwas aufgerafft hat, wird sie meistens wieder depressiv und liegt dann wochenlang im Bett.
    Früher hat sie ein Medikament genommen, mit dem sich die Stimmungsschwankungen einigermaßen kontrollieren ließen, doch als Opa gestorben ist, hat sie es abgesetzt. Ich hasse es, mich mit ihr zu streiten. Das ist auch so eine Sache, die Jamie mir vorwirft. Er findet mich zu weich. Er meint, es müsse uns doch irgendjemand helfen könne n – ein Arzt, das Sozialamt, wer auch immer. Dabei haben wir schon alles probiert. Mum sträubt sich mit aller Macht gegen Ärzte und Krankenhäuser und jegliche Einmischung von außen. Sie bricht in Tränen aus, wenn ich das Thema Behandlung auch nur anspreche. Arzttermine hält sie sowieso nicht ein, und wenn einer vom Amt bei uns anklopft, versteckt sie sich.
    »Okay, dann werde ich einkaufen gehen.« Mum wendet sich von den halb geleerten Regalen ab, greift sich einen Wischmopp und putzt wie wild den Boden. »Wir brauchen Betten und Vorhänge und Kleiderschränke un d …«
    Mit wutverzerrtem Gesicht springt Jamie auf und rauscht aus der Küche, wobei er die Tür so heftig aufstößt, dass es knallt. Ich renne ihm sofort nach, um ihn zu beruhigen, aber Mum merkt es nicht einmal.
    Ich kann es Jamie nicht verübeln. Wir haben kein Geld, und Mum schafft es nicht, einen Job zu behalten. Deshalb leben wir von der Stütze und verkaufen hin und wieder einen von Opas kostbaren Schätzen für ein paar lumpige Pennys. Das hasse ich mehr als alles andere. Aber wenn Mum in ihrer manischen Phase ist, muss sie shoppen.
    Vor einigen Monaten kamen Jamie und ich von der Schule nach Hause und entdeckten ein brandneues schwarzes Mercedes Cabrio in unserer Einfahrt. Es ging auf direktem Weg zurück zum Händler, und Mum schmollte tagelang.
    Gestern hat sie davon gesprochen, sich eine Harley zu kaufen. Sie hat nicht mal einen Führerschein.
    Jeden Monat verstopfen Kreditkartenrechnungen unseren Briefschlitz, aber Mum kümmert sich nicht darum, sondern beantragt einfach neue Karten. Keine Ahnung, wie sie die bekommt. Irgendwie habe ich das ungute Gefühl, dass da Betrug im Spiel ist.
    Als Jamie und ich noch klein waren, mussten wir aus
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