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Böser Bruder, toter Bruder

Böser Bruder, toter Bruder

Titel: Böser Bruder, toter Bruder
Autoren: Narinder Dhami
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unserer Wohnung ausziehen, weil Mum die Miete nicht mehr zahlen konnte, und so landeten wir bei Opa. Er war der Einzige, der Einfluss auf Mum hatte, aber er starb vor gut einem Jahr. Ich kann nicht beschreiben, wie sehr ich ihn geliebt habe und wie sehr er mir fehlt.
    Dieses riesige, baufällige Haus fühlt sich jetzt zu groß und einsam an. Es ist ein seltsamer Kasten, zugig und überheizt zugleich, mit Erkern und Türmen aus rotem Backstein und Buntglasscheiben, die kaum Licht durchlassen. Es sieht aus wie eine Kirche, in der es spukt.
    Die Kinder aus der Gegend nennen uns die Addams Family. Vielleicht liegt es an dem Haus, vielleicht aber auch daran, dass sie uns merkwürdig finden. Sie sprechen nicht mit uns. Aber sie rufen uns ab und zu Beleidigungen hinterher.
    »Ich muss los, Mum.« Ich bleibe in der Tür stehen. »Bis nachher.«
    Mum lässt den Wischmopp auf den Boden fallen und eilt zu mir, um mich an sich zu drücken. Sie ist wunderschön, groß und schlank, und sie hat traumhafte schwarze Locken. Bei ihrem Anblick käme keiner auf die Idee, dass sie krank sein könnte.
    » Ich wünsch dir einen schönen Tag, Schätzchen «, singt sie zu der Melodie, die im Radio läuft. » Und mach dir keine Sorgen um mich. Ich komme schon klar. «
    Ich nicke, obwohl ich mir sehr wohl Sorgen machen werde, und sie weiß es. Das wird sie allerdings nicht daran hindern, mit haarsträubender Leichtfertigkeit all das zu tun, was ihr in den Sinn kommt, wenn die Manie die Überhand gewinnt.
    Da Jamie im Flur auf mich lauern wird, um mir Vorwürfe zu machen, versuche ich noch rasch, die Situation wenigstens etwas zu retten.
    »Hör mal, Mum. Die Idee mit dem Untermieter ist wirklich toll, aber vielleicht wartest du mit den neuen Möbeln, bis wir den Dachboden entrümpelt habe n …«
    Mums Miene verändert sich. »Warum?«, faucht sie mich an. Ihre gute Laune ist wie weggeblasen, und ich knicke unter ihrem herausfordernden Blick ein.
    »Na ja, wei l …«, stammele ich und wünsche mir, ich hätte es einfach gut sein lassen, wie ich es in neunundneunzig Prozent aller Fälle tue. Wie immer, wenn ich versuche, es sowohl Mum als auch Jamie recht zu machen, geht es schief. »Wir sind im Augenblick ein bisschen knapp bei Kass e …«
    Voller Wut tritt Mum nach dem Wischmopp. Er schlittert über den Boden auf mich zu, und ich bringe mich mit einem Satz nach hinten in Sicherheit.
    »Ich habe Geld!«, schreit Mum. Kalt, hart, zornig. »Ich habe drei neue Kreditkarten!«
    »Ich dachte ja nur, dass wir vielleicht vorher Platz schaffen sollten«, murmele ich und bewege mich rückwärts auf die Tür zu.
    Ich hätte meinen Überlebensinstinkten trauen und den Mund halten sollen. Meistens drücke ich mich vor Entscheidungen und wenn nicht, treffe ich garantiert die falschen.
    »Halt dich da raus, Mia!«, kreischt Mum wie eine Furie. Ich habe solche Wutanfälle schon öfter erlebt. Sie dauern nie lange, aber sie jagen mir immer wieder Angst ein. »Du bist noch ein Kind, also misch dich nicht in Dinge ein, die dich nichts angehen! Fürs Geld bin ich zuständig!«
    »Halt die Klappe, Mum!« Jamie taucht neben mir auf. Er sieht genauso wütend und aggressiv aus wie Mum. Die beiden sind sich ähnlicher, als sie wahrhaben wollen. »Du bist echt jämmerlich, weißt du das? Du scherst dich einen Dreck um andere. Es geht immer nur um dic h …«
    Mum greift nach einem Teller und schleudert ihn in unsere Richtung. Ich ducke mich, während Jamie reglos stehen bleibt. Der Teller verfehlt uns und zerspringt scheppernd am Boden.
    »Hör auf damit!«, stöhnt Mum und rauft sich das Haar. »Immer hast du was an mir auszusetzen. Ich hab’s satt. Hau ab! Geh mir aus den Augen und lass mich in Frieden!«
    »Schon gut, Mum«, sage ich schnell. »Ist ja schon gut. Kauf, was du magst.«
    Ich will jetzt nur noch verschwinden, aber Jamie steht wie angewurzelt da. Frustriert und zornig.
    Ich packe seinen Arm und ziehe ihn in den Flur. Er macht sich los, lässt sich auf die unterste Treppenstufe fallen und vergräbt das Gesicht in den Händen. Ich werfe einen Blick in die Küche und sehe, dass Mum vor Wut bebt. Sie lässt den Wischmopp liegen, sinkt auf einen Küchenstuhl, zieht die Beine an und macht sich ganz klein. Lautlos schließe ich die Tür.
    Sie ist krank, sage ich mir wie immer. Sie kann nichts dafür.
    Aber nach so vielen Jahren endloser Wiederholungen ist dieses Mantra abgenutzt und hat an Kraft verloren. Nach den niederschmetternden Vorfällen der
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