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Die Puppenspieler

Die Puppenspieler

Titel: Die Puppenspieler
Autoren: Tanja Kinkel
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I
Der Alptraum
    1
    D IE F RÜHLINGSSONNE schien hell durch das verglaste Fenster auf den Tisch, hinter dem der Abt des Klosters St. Georg zu Wandlingen saß und ein Dokument, das vor ihm lag, studierte. Die tanzenden Strahlen ließen einzelne Buchstaben wie dunkle Flecke hervortreten. Satzbruchteile fingen seinen Blick auf:
    »Innozenz, Diener der Diener Gottes … Es sind uns große Beschwerden zu Ohren gekommen, daß in einigen Teilen Oberdeutschlands, wie auch … sehr viele Personen beiderlei Geschlechts, ihre eigene Seligkeit vergessend … die geliebten Söhne Heinrichs Institoris … Jakob Sprenger … daß diesen Inquisitoren das Amt solcher Inquisition erlaubt sei und sie zur Besserung, Inhaftierung und Bestrafung solcher Personen …«
    Ein leises Hüsteln lenkte ihn von seiner Lektüre, der Bulle ›Summis desiderantes‹ des neuen Papstes Innozenz VIII. ab. Der Abt seufzte. Die neue Bulle war von höchster Wichtigkeit, und er hätte sich ihr gern ausführlicher gewidmet. Doch noch andere Aufgaben warteten auf ihn. Dieses Kloster beherbergte nicht nur Angehörige des Benediktinerordens, sondern auch eine Menge Schüler. Mit einem solchen befand sich Bruder Ludwig jetzt hier; der Abt hatte die beiden eintreten lassen, konnte sich jedoch nicht sofort von seinem Dokument losreißen. In dem Begleitschreiben, das von einem befreundeten Würdenträger der Kirche stammte, wurde die Bulle als Meilenstein bezeichnet. Und so warteten der Lehrer und sein Schüler schon an die fünf Minuten. Die Bulle mußte ein wenig zurückgestellt werden.
    »Was gibt es, Frater?« fragte der Abt freundlich, doch mit ein wenig ungeduldigem Unterton. Bruder Ludwig zählte noch nicht lange zu seinen Mönchen. Vor einem halben Jahr war er aus Speyer gekommen und hatte nun den alten Bruder Andreas als Geographie- und Geschichtslehrer abgelöst. Die Schüler hatten, soweit der Abt wußte, bisher nicht allzu begeistert darauf reagiert, und er hegte den Verdacht, daß der neue Bruder aus diesem Grund zu ihm gekommen war.
    Bruder Ludwig räusperte sich erneut. Er war ein mittelgroßer, unauffälliger Mann, ein wenig gedrungen, noch keine dreißig, doch sein Haar wäre auch ohne die Tonsur bereits schütter gewesen. Er blickte von dem Abt zu seinem Schüler und sagte schließlich unbehaglich: »Es handelt sich um diesen Schüler hier, ehrwürdiger Abt, Richard Artzt.«
    In den Augen des Abts leuchtete erstmals so etwas wie Interesse auf. »Das dachte ich mir, Bruder Ludwig«, erwiderte er trocken, »doch was hat er getan?«
    Der Mönch, der in der schwarzen Kutte der Benediktiner unnatürlich bleich aussah, trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. Er war kein begnadeter Redner, und er wußte, daß es dem Abt nicht gefallen würde, wenn er jetzt schon Schwierigkeiten mit den Jungen, die ihm anvertraut waren, nicht allein lösen konnte. Bruder Andreas hatte es immer verstanden, sich durchzusetzen, das hielt man ihm jedenfalls ständig vor, und dieser Junge war, wie es hieß, einer seiner Vorzugsschüler gewesen. Ludwig versuchte energisch zu wirken und straffte die Brust.
    »Er schenkt dem Unterricht wenig oder überhaupt keine Aufmerksamkeit und widerspricht seinem Lehrer«, sagte er, und seine Stimme klang dünn und abwehrend zugleich.
    Der Abt zwinkerte. »Nun, Richard«, sagte er, immer noch freundlich, »weißt du nicht, daß ein Schüler seinem Lehrer mit Gehorsam und Ehrfurcht begegnen muß?«
    Der Junge verzog das Gesicht. »Ich gehorche doch … ich lerne jede meiner Lektionen. Wenn Bruder Ludwig mich im Unterricht aufruft, kann ich ihm jederzeit den Inhalt der Stunde wiederholen. Das ist doch wahr, oder?« wandte er sich herausfordernd an Ludwig. Dieser errötete. Der Abt griff ein.
    »Richard«, sagte er streng, »dies ist nicht die Art, mit einem Erwachsenen zu sprechen, von einem Priester ganz zu schweigen.« Er schwieg einen Moment und musterte den Jungen. Richard war zwölf Jahre alt, doch eher klein für sein Alter, und seine leicht bräunliche Haut stach gegen die Blässe Bruder Ludwigs ab. Auch seine Haare waren braun, doch von einer satten, üppigen Farbe, die an Herbstlaub erinnerte und manchmal ins Rötliche, zu anderen Zeiten ins Schwarze überzugehen schien. Seine Augen funkelten tiefschwarz und gaben dem Jungen zusammen mit seinen hohen Wangenknochen einen fremdartigen Ausdruck. Richard hatte gerade, dichte Augenbrauen und einen feingeschnittenen Mund, der im Ärger schmal und hart wirkte. Wenn jemand Grund dazu
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