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Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich
Autoren: Tana French
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Prolog
    Manchmal nachts, wenn ich allein schlafe, träume ich noch immer vom Whitethorn House. Im Traum ist es stets Frühling, kühles, zart dunstiges Spätnachmittagslicht. Ich steige die abgetretenen Steinstufen hoch und klopfe an die Tür – der prächtige Messingklopfer ist schwarz angelaufen und so schwer, dass man jedes Mal erschrickt –, und eine alte Frau mit Schürze und einem bauernschlauen, harten Gesicht lässt mich herein. Dann hängt sie den großen, rostigen Schlüssel wieder an ihren Gürtel und geht die Einfahrt hinunter davon, unter den fallenden Kirschblüten hindurch, und ich schließe die Tür hinter ihr.
    Das Haus ist immer leer. Die Schlafzimmer sind kahl und hell, nur meine Schritte hallen von den Dielenbrettern, kreiseln durch die Sonne und die Staubkörnchen hinauf bis zur hohen Decke. Es riecht nach wilden Hyazinthen, deren Duft durch die weit offenen Fenster hereinweht, und nach Bienenwachspolitur. Weiße Farbflocken blättern von den Schiebefenstern ab, und eine Efeuranke ragt schwankend über die Fensterbank. Waldtauben, träge irgendwo draußen.
    Im Wohnzimmer ist das Klavier aufgeklappt, kastanienfarben schimmerndes Holz, in den Sonnenstreifen fast blendend hell, leichter Wind, der die vergilbten Notenblätter bewegt wie ein Finger. Der Tisch ist für fünf Personen gedeckt, für uns – die Knochenporzellanteller und die langstieligen Weingläser, frisch geschnittenes Waldgeißblatt quillt aus einer Kristallschale –, aber das Tafelsilber ist matt angelaufen, und die dicken Damastservietten sind wattig vor Staub. Daniels Zigarettenetui liegt an seinem Platz am Kopfende des Tisches, offen und leer bis auf ein abgebranntes Streichholz.
    Irgendwo im Haus, schwach wie ein Fingernagelklicken, sind Geräusche: ein Schlurfen, Flüstern. Mir bleibt fast das Herz stehen. Die anderen sind gar nicht fort, irgendwie hab ich das alles nur falsch verstanden. Sie verstecken sich bloß; sie sind noch da, für alle Zeit.
    Ich folge den winzigen Geräuschen Zimmer für Zimmer durchs Haus, verharre nach jedem Schritt, um zu lauschen, aber ich bin nie schnell genug: Sie entgleiten stets wie Trugbilder, hinter die nächste Tür oder weiter die Treppe hinauf. Ein spitziges Kichern, augenblicklich gedämpft, das Knarren von Holz. Ich lasse Kleiderschranktüren weit aufschwingen, ich nehme drei Stufen auf einmal, ich wirbele oben um den Treppenpfosten herum und erhasche aus dem Augenwinkel noch eine rasche Bewegung: der fleckige alte Spiegel am Ende des Korridors, mein Gesicht darin, lachend.

I
    Dies ist Lexie Madisons Geschichte, nicht meine. Ich würde Ihnen gern die eine erzählen, ohne in die andere hineinzugeraten, aber das funktioniert nicht. Früher dachte ich, ich hätte uns eigenhändig an den Rändern zusammengenäht, den Faden festgezurrt, und ich könnte die Naht jederzeit wieder auftrennen, ganz nach Belieben. Jetzt denke ich, dass sie schon immer tiefer reichte und weiter, dass sie unterirdisch verlief, außer Sichtweite und völlig außerhalb meiner Kontrolle.
    Mein Anteil ist jedoch klar: alles, was ich getan habe. Frank macht ausschließlich die anderen verantwortlich, in erster Linie Daniel, wohingegen Sam offenbar meint, es wäre auf seltsam spiegelverzerrte Weise Lexies Schuld. Wenn ich sage, dass es nicht so war, werfen sie mir einen Seitenblick zu und wechseln das Thema – ich habe allmählich das Gefühl, dass Frank denkt, ich hätte irgendeine schleichende Variante des Stockholm-Syndroms. So etwas kommt bei verdeckten Ermittlern tatsächlich vor, aber in diesem Fall nicht. Ich will niemanden schützen, es ist niemand mehr da, der geschützt werden könnte. Lexie und die anderen werden nie erfahren, dass man ihnen die Schuld gibt, und wenn, wäre es ihnen egal. Aber unterschätzen Sie mich nicht. Mag sein, dass jemand anderer die Karten ausgeteilt hat, aber ich habe sie vom Tisch genommen, ich habe jede Karte gespielt, und ich hatte meine Gründe. Über Alexandra Madison müssen Sie vor allem eines wissen: Sie hat nie existiert. Frank Mackey und ich haben sie erfunden, vor langer Zeit, an einem strahlenden Sommernachmittag in seinem staubigen Büro auf der Harcourt Street. Er wollte Leute in einen Drogenring am University College Dublin, dem UCD, einschleusen. Ich wollte den Job, vielleicht mehr, als ich je irgendetwas im Leben gewollt hatte.
    Er war eine Legende: Frank Mackey, noch nicht mal vierzig und bereits Leiter von verdeckten Operationen. Der beste Undercovercop, den
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