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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein
Autoren: Mary Mackey
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nie groß werden«, sagte sie. »Ich habe Angst davor, eine Frau zu sein.«
    »Was ist denn in dich gefahren?« Enshagag stieß Inanna ungehalten fort und reichte ihr einen Korb mit gebratenem Ziegenfleisch. »Reiß überall das Fleisch von den Knochen, und wenn du damit fertig bist, hilfst du mir beim Käsemachen. Hier wartet überall Arbeit, und ich habe nicht vor, sie ganz allein zu tun.« Die alte Frau verschwand im rückwärtigen Teil des Zelts und zog hinter sich einen Vorhang zu; das Leder gab dabei ein Geräusch von sich, als würde ein Stock zerbrochen. Mit wem kann ich noch reden, jetzt, wo Lilith fort ist? fragte sich Inanna. Wer versteht mich jetzt noch?
     
    Der Winter, in dem Inanna fünfzehn war, war naß und unstet. Tagelang regnete es ohne Unterbrechung, bis das Gras anfing zu faulen und die Flüsse mit umgestürzten Bäumen und den Kadavern umgekommener Tiere übersät waren. Alles setzte Schimmel an: die Vliese, auf denen die Menschen schliefen, die mit Pech bestrichenen Milchkörbe und sogar die lederne Zeltverspannung. Als Inanna die Käseräder holte, die sie und Enshagag im vorangegangenen Sommer gemacht hatten, mußte sie feststellen, daß die Hälfte von ihnen bereits angefault und nicht mehr genießbar war. Jeden Morgen rannte sie vors Zelt, um nachzusehen, ob der Regen noch nicht aufgehört hatte. Aber die graue Wolkendecke riß nie länger als für ein paar Sekunden auf, und bald wurde es fast unmöglich, irgendwo genügend trockenes Holz für ein Feuer zu finden. Wenn die Frauen hinausgingen, um die Ziegen zu melken, stellten sie fest, daß deren Hufe weich geworden und gesplittert waren, und die Schafe waren so mit wunden Stellen bedeckt, daß man ihr Fleisch kaum noch verzehren konnte.
    Inanna erinnerte sich daran, daß der Winter immer schon eine Zeit des andauernden Hungers gewesen war. In der Nacht träumte sie von gebratenem Ziegenfleisch, frischem Käse, Milch, auf der dick der Rahm schwamm, körbeweise saftigen Beeren und Bergen von gerösteten Mandeln. Aber am Morgen nagte der Hunger immer wieder wie ein Fuchs in ihrem Bauch. »Das dumme Ding hört einfach nicht auf zu essen«, beschwerte sich Enshagag bei Pulal. Inanna war inzwischen sehr gewachsen, war das größte Mädchen im ganzen Lager, und wenn sie in einen Fluß schaute, sahen sie dort zwei rauchig grüne Augen an. »Fremdlingsaugen«, sagte Enshagag, »Wolfs-Frauenaugen, die du von deiner Wölfin von Mutter mitbekommen hast.« Ja, ich bin eine Wölfin, dachte Inanna grimmig und malte sich in ihrer Phantasie schreckliche Untaten aus: Pulal Nahrung aus seinen Töpfen zu stehlen oder ein ganzes Lamm nur für den Eigenbedarf zu töten. Danach eilte sie in den hinteren Teil des Zelts, um dort nach einer bislang übersehenen Nuß oder einem noch genießbaren Stückchen Käse zu suchen.
    Einmal wachte sie morgens auf und entdeckte Pulal der neben ihr hockte und sie intensiv betrachtete. »Du ißt zuviel«, sagte er, »und wo geht das alles hin? Sieh dich doch nur einmal an.« Er drückte ihr mit einem Finger tief in den Arm, und ausgehend von seiner Narbe breitete sich über seinem ganzen Gesicht ein breites Lächeln aus. »Du siehst aus wie eine lebende Zeltstange. Eine knochige Riesin bist du. Hat man jemals zuvor ein so häßliches Mädchen gesehen? Was denkst du denn, was ich für dich noch für einen Brautpreis erzielen kann?« Inanna spürte die langen Knochen in ihren Beinen und den Hunger in ihrem Bauch. Sie war schön, er war nur nicht in der Lage, das zu erkennen. »Und erst deine Augen ... Du solltest den Blick senken, wie das die anderen jungen Frauen auch tun, statt jeden so anzustarren, als wolltest du ihn fressen.« Sie war eben eine Wolfs-Frau, war die Tochter einer Wölfin. Wieder stach er mit dem Finger zu, und dann ein drittes Mal.
    »Du wirst Hursag heiraten«, sagte Pulal. »Obwohl es über meinen Verstand geht, warum er ausgerechnet dich in seinem Lager haben will. Ich hätte gedacht, deine Schwester würde ihm schon Kummer genug bereiten.« Inanna hatte nur die Hälfte verstanden, sie war noch immer im Halbschlaf. Pulal legte ihr eine Hand auf die Schulter, und sie spürte den kalten Haß in seinen Fingern. »Du wirst eine gute Zweitfrau. Ich kann es mir nicht leisten, dich noch länger durchzufüttern, und Hursag hatte in seinem Zelt immer schon die meisten Vorräte.« Er klopfte ihr auf die Schulter, ein verkrampfter Schlag wie von einem Mann, der einen Hund berührt, von dem er nicht weiß, ob er nicht
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