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Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Geiger: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Mechtild Borrmann
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Kapitel 1
    Mai 1948, Moskau
    D er Schlussakkord von Tschaikowskys Violinkonzert in D-Dur schwebte über die Köpfe der Menschen im Parkett, hinauf zu den Rängen, dehnte sich aus zu den Gästen auf den Balkonen und löste sich endlich in der hohen Kuppel des Konzertsaales auf. Sekundenlang verharrte das Publikum still, dann brauste tosender Applaus auf. Ilja ließ seine Geige sinken und verbeugte sich zusammen mit dem Dirigenten tief vor den jubelnden Menschen. Die Orchestermusiker erhoben sich von ihren Stühlen und verneigten sich ebenfalls.
    Sechs Wochen lang hatte Ilja Wassiljewitsch Grenko in den Konzertsälen Europas gespielt, war auch dort gefeiert worden, aber hier, am Tschaikowsky-Konservatorium, wo er gelernt hatte und seine Lehrer in den ersten Reihen saßen und ihm applaudierten, erfüllte ihn die Anerkennung des Publikums mit besonderem Stolz. Eine letzte Verbeugung, ein letztes Mal zog er sein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich über die Stirn. Dann verließ er den Konzertsaal.
    Der Geigenkoffer stand unmittelbar neben dem Bühneneingang. Er trug sein Instrument nie ungeschützt durch Gänge und Flure. Seine Kollegen belächelten diese Vorsicht, nannten sie eine Marotte, aber Ilja Grenko liebte seine Geige. Die unbedarfte Bewegung eines Kollegen, ein unvorsichtiger Bühnenarbeiter, überall lauerten Gefahren. Er verband seinen Erfolg unmittelbar mit dieser Stradivari, die seit vier Generationen im Familienbesitz der Grenkos war. Sein Ururgroßvater, der Geiger Stanislaw Sergejewitsch Grenko, hatte sie 1862 von Zar Alexander II. geschenkt bekommen. Die Geschichte um dieses Geschenk war bis zur Revolution voller Stolz weitergegeben worden. Stanislaw Sergejewitsch war des Zaren Lieblingsgeiger gewesen, und zwischen den beiden Männern hatte sich eine Freundschaft entwickelt. Der Zar hatte die Familie sogar zum Urlaub in seine Sommerresidenz eingeladen.
    Alexander II. hatte die Stradivari von einer Italienreise mitgebracht und seinem Freund zum Geschenk gemacht. Stanislaw Sergejewitsch, so war es überliefert, schrieb dem Zaren später in einem Brief: »Nie habe ich eine Geige mit einem solchen Klang besessen. Es ist, als folge meine Seele den Tönen in tiefste Schatten und hellstes Licht.«
    Nach seinem Tod hegten und pflegten seine Erben das Geschenk, und die Geschichte der Violine wurde gerne zum Besten gegeben. Das änderte sich mit der Revolution 1917. Die Umstände, wie die Geige in den Besitz der Grenkos gelangt war, wurde zu einem Familiengeheimnis und nur im engsten Kreis hinter vorgehaltener Hand erzählt. Man fürchtete, dass die neuen Machthaber sie beschlagnahmen oder gar – als Symbol der Zarenherrschaft – zerstören würden.
    Keiner von Stanislaw Sergejewitschs Nachkommen war ein großer Musiker geworden, keiner hatte das Instrument mit jener Fertigkeit gespielt, mit der er ihm die Töne entlockt hatte. Erst Ilja war es, vier Generationen später, gelungen, die Violine wieder mit jener Leichtigkeit zu spielen, die dem Ururgroßvater zu eigen gewesen war.
    Als er verschwitzt und mit dem Geigenkoffer in der Hand seine Garderobe betrat, erwarteten ihn zwei Männer in billigen Straßenanzügen. Der eine saß vor der Spiegelkommode, lässig in den alten Drehstuhl gelehnt, den linken Fuß auf das rechte Knie gelegt. Der andere, auf dem schmalen Diwan an der hinteren Wand, saß vorgebeugt, die Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt. Er erhob sich behäbig, nahm Iljas Sommermantel, der an einem Haken neben dem Diwan hing, und sagte knapp: »Ilja Wassiljewitsch Grenko, Sie müssen uns begleiten.«
    Ilja blieb reglos stehen, seine Gedanken überschlugen sich. »Das muss ein Missverständnis sein«, brachte er mit rauher Stimme hervor.
    Jetzt erst bemerkte er, dass die Schubladen der Kommode offen standen und der Mann, der vor dem Spiegel gesessen hatte und nun dicht vor ihn trat, die Tasche mit den Partituren unter dem Arm hielt.
    »Wenn das ein Missverständnis sein sollte«, sagte der Mann gelangweilt, »dann sind Sie ja bald wieder zurück.« Er schob Ilja Grenko auf den schmalen Flur und weiter in Richtung Hinterausgang.
    Ilja brach der Schweiß aus. »Meine Frau«, stammelte er, während die Männer ihn eilig den Gang entlangdrängten, »meine Frau war im Publikum. Bitte! Kann ich ihr bitte kurz Bescheid sagen?«
    Die Männer schoben ihn weiter. »Machen Sie keine Schwierigkeiten, Grenko, kommen Sie einfach mit.«
    Ilja ging an verschlossenen Garderobentüren vorbei und
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