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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein
Autoren: Mary Mackey
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gegen die Brust.
    In dieser Nacht hörte der Regen zum ersten Mal seit langer Zeit auf, und die Sterne erschienen wieder am Himmel. Die Zelte waren in einer Schlucht voller Buchen aufgeschlagen. Inanna und Lilith lagen vor Hursags Zelt auf einer Decke und sahen hinauf zu den Sternen. »Das sind die Schafe des Himmels«, flüsterte Lilith und zeigte nach oben. Dann erzählte sie eine uralte Geschichte von einer Frau aus dem Stamm Ki, die starb und später ihre Seele auf die Erde zurückschickte, um dort wiedergeboren zu werden.
    »Und wenn du stirbst, kommst du dann auch zu mir zurück?« fragte Inanna. Lilith lächelte und drückte die Hand der Schwester. »Ich werde es versuchen.«
    Im Zelt schlummerte Hursag über einer Schüssel warmer Milch. Das Feuer flackerte, bis nur noch glühende Kohlen übrig waren. Eine Eule zog ihre Bahn und tauchte kurz vor ihnen hinab. Ein Nachtvogel rief dreimal und schwieg dann.
     

III
    Der Tau lag dicht und schwer über dem Land, und die nassen Blumen und Gräser klebten an Inannas nackten Beinen, als sie um die erloschenen Feuerstellen herum zum Rand des Lagers ging.
    Das klare Wasser der Liebe ist in meinem Herzen,
sang das Mädchen.
    Er hat mich geküßt und bei mir gelegen
    Wie ein Trunk aus Honigwein.
    Geküßt. Ja, sie hatte Hursag noch vor wenigen Augenblicken geküßt, während er im Schlaf lag; nur sanft auf die Stirn, um ihn nicht zu wecken. Und sie hatte ihm beigelegen, die ganze Nacht hindurch, und seinem Schnarchen zugehört. Aber es war nicht wie ein Trunk aus Honigwein gewesen. Und plötzlich schämte sich Inanna. Schon über ein Jahr war sie nun Hursags Gattin und hatte ihre Pflichten noch immer nicht gelernt. Die Wildheit in ihr, die sie so sehr von anderen Frauen unterschied, wollte nicht versiegen. Hursag war ein guter Mann, und es war schändlich von ihr, ihm keine Liebe zu geben.
    Aber ich liebe ihn doch nicht, sagte sie sich in Gedanken und biß sich im gleichen Moment zur Selbstbestrafung in die Wange. Ihre Gedanken sprangen an diesem Morgen wie ein junger Ziegenbock hin und her, hüpften unbeherrscht über die Gatter und Zäune, die sie selbst errichtet hatte. Mit ihr und Hursag war es nicht so, wie es in den alten Liebesliedern beschrieben wurde. Wo waren die Kinder, die sie hätte gebären sollen? Sie drückte mit der Handfläche auf den Bauch und seufzte. Sie konnte nicht gegen ihre schlimmen Gedanken ankämpfen, und schon der bloße Versuch machte alles nur noch ärger.
    Inanna starrte über den Rand der Schlucht auf die Stelle, wo aus dem Fluß ein Wasserfall wurde. Am Horizont wurden die Gipfel der westlichen Berge von den ersten rosa- und goldfarbenen Strahlen gestreift. Zedern, Eichenbüsche, Wacholder und Wildpistazien so weit das Auge reichte. Und hoch über dem Tal zog ein
    einzelner Falke in der stillen blauen Luft seine Bahn. Tief unten an den Flußauen, dort wo der Wasserlauf sich wieder beruhigte und in ein natürliches Becken mündete, watschelten Wildenten und graste eine Herde Steinböcke.
    Wie ein Vogel zu fliegen! Der Wind peitschte den Rückenteil des Umhangs gegen ihre Beine. Wenn sie fliegen könnte, würde sie die Berge im Westen überwinden und zu den Städten gelangen, in denen Liliths goldene Taube gefertigt worden war. Sie würde dorthin kommen, wo die Menschen die Frauen verehrten, und sie würde dort als Göttin verehrt werden. Sie würde auf einem Thron sitzen, und alle jungen Männer würden heranströmen und ihr ihre besten Ziegen bringen. Und vor jedem einzelnen würde sie den Kopf schütteln. »Nein, keiner von euch ist mir gut genug. Keiner von euch vermag es, mich zu erfreuen.« Bis dann der bestaussehende Jüngling von allen erscheinen würde. Den wollte sie dann an der Hand nehmen, ihn zu sich heranziehen und erklären: »Du. Dich erwähle ich.«
    Welcher teuflische Gott gab ihrem Kopf nur solche Gedanken ein? Sie war eine verheiratete Frau! Inanna kehrte augenblicklich den Bergen den Rücken zu und trat hinunter an den Fluß. Die erste Berührung mit dem kalten Wasser brachte sie zum Keuchen, aber sie zwang sich dazu, eine Handvoll zu schöpfen und sich über das Gesicht laufen zu lassen. Vergib mir, Gemahl, für solch schändliche Gedanken. Sie wollte ihre Pflichten lernen und befolgen. Die westlichen Berge waren wie ein Wall. Für immer und ewig würden sie sich unüberwindbar vor ihr erheben. Inanna würde eine alte Frau werden, ohne sie jemals überquert zu haben.
    Inanna trat aus dem Fluß und wischte sich mit
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