Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein
Autoren: Mary Mackey
Vom Netzwerk:
einem Büschel Süßgras die Füße trocken. Sie fühlte sich schwer und unbeholfen, so als wären Steine an ihre Waden gebunden. Dieses Gefühl hatte sie schon, solange sie zurückdenken konnte, daß nämlich ein unsichtbarer Feind sie wieder und wieder besiegen würde. Am Flußufer lag eine verkrüppelte Eiche, und die gebleichten Wurzeln ragten wie erhobene Finger neben ihr auf. Kleine Löcher waren im Stamm, dort wo Insekten sich bereits in die trockene Rinde gebohrt hatten. Feuerholz für das Frühstücksfeuer. Sie war eigentlich hier, Holz zu sammeln. Hursag zeigte nach dem Aufwachen immer großen Hunger, und heute war sie an der Reihe, die Mahl-
    zeit zuzubereiten. Sie wollte sich ihren Pflichten fügen.
    Dann hatte sie ein Bündel Holz auf dem Rücken, und die Rinde drückte sich schmerzhaft in ihre Schulter. Im Augenblick hatte sie keine Zeit, die Ziegen zu melken. Das konnte sie später immer noch erledigen, zusammen mit Lilith. Im Lager stiegen Rauchfahnen von den ersten Feuern hoch, und der Geruch von verbrennenden Zedernnadeln breitete sich aus. Inanna richtete das Holzbündel so, daß sie es angenehmer tragen konnte, und eilte durch das hohe Gras ins Lager zurück.
    Holz sammeln und ins Lager tragen, auf immer und ewig den gleichen Weg mit dem gleichen Bündel laufen, worin lag da ein Sinn, wozu war das gut? Plötzlich blieb sie stehen und warf ärgerlich das Holz auf den Boden. Und wieder sah sie in die Ferne. Über ihr zog der Falke immer noch langsam seine Bahn. Hinter ihm breitete sich eine Kette von rosafarbenen Wolken über den ganzen Horizont aus. Warum war solche Schönheit erschaffen worden, wenn niemand die Zeit dazu hatte, sie zu sehen und sich an ihr zu erfreuen?
    Ein Geräusch fuhr wie ein Pfeil durch den stillen Morgen. Ein schriller Schrei, voller unmündiger Furcht. Das Blöken eines Lamms um Hilfe. Wieder eine Unannehmlichkeit, dachte Inanna, immer nur Unannehmlichkeiten.
    Inanna suchte mit ihrem Blick die Wand aus Schieferstein ab. Wo war das Lamm? Wahrscheinlich irgendwo über ihr zwischen den Felsen. Das trockene Gestein blätterte unter ihren Fingern, und mehr als einmal rutschten ihre Füße ab. Bei der Suche nach diesem dummen Tier konnte sie sich leicht das Genick brechen. Jeder wußte, wie gefährlich es war, die Schieferwand zu besteigen. Wieder blökte das Lamm, und Inanna griff nach den Wurzeln eines Eichenbuschs. Von dort zog sie sich zu einem schmalen Sims hoch und blieb erst einmal ruhig liegen. Unter ihr rauschte der Fluß wie ein dünner weißer Wollfaden ins Tal. Bis dort hinab konnte sie also stürzen. Dann sah Inanna das Lamm. Seine lange braune Wolle war mit Kletten überzogen, und sein rechtes Vorderbein war zwischen zwei Steinen eingezwängt. Ein altes Mutterschaf stand daneben und blökte nach Kräften mit. Die Alte betrachtete Inanna mit wäßrigen schwarzen Augen und stieß dann das Junge sanft ins Hinterteil.
    »Nein, so geht das nicht«, erklärte ihr Inanna. Langsam auf Händen und Knien kroch sie das Sims entlang und bekam einen der Steine zu fassen, der das Lamm gefangen hielt. Aber der Stein war wohl nur die Spitze eines unter dem Boden liegenden, großen Brockens; und nach seiner Widerspenstigkeit zu urteilen, handelte es sich bei ihm mindestens um den Gipfel eines Berges. Wieder und wieder zerrte und zog sie daran, und endlich gab er nach. Doch der Stein entglitt ihrem Griff und polterte, andere Brocken mitreißend die Wand hinunter. Mit einem überraschten Blöken befreite sich das Lamm ganz und eilte zum Mutterschaf, um zu säugen.
    Inanna wischte sich den Schweiß von der Stirn und zog sich rasch vom gefährlichen Simsrand zurück. Der Wind verebbte, und für einen Augenblick war es so still, daß sie ihren eigenen rauhen Atem und den wilden Schlag ihres Herzens hören konnte. Dann mischte sich ein schriller Schrei aus dem Lager unten in den Wind. Eine Frau schrie!
    Die Wilden! Vor Inannas geistigem Auge erschienen Bilder von Wilden, die Zelte in Brand steckten und das Vieh stahlen, von den schmutzverklebten Gesichtern der Angreifer und von den Tierknochen, die sie als Waffen benutzten. Aber halt, wenn dort unten wirklich ein Angriff der Wilden stattfand, müßten mehr Schreie zu hören sein und auch die Schlachtrufe der Männer von Kur. Pulal würde seine Befehle brüllen, und Waffen würden klirren. Aber dort unten schrie nur eine einzelne Stimme.
    Auf Händen, Armen und Ellenbogen näherte sich Inanna vorsichtig dem Rand und sah nach unten. Die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher