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Nur Engel fliegen hoeher

Nur Engel fliegen hoeher

Titel: Nur Engel fliegen hoeher
Autoren: Wim Westfield
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Kapitel 1
    »Wohin führst du mich?« Julia bleibt stehen. »Es ist stockdunkel. Außerdem kriege ich nasse Füße. Der Schnee ist schon höher als meine Schuhe.«
    »Ich zeige dir etwas, das du noch nie gesehen hast«, sagt Jonas. Er nimmt ihre Hand und zieht Julia weiter, zwischen gespenstisch in den Winterhimmel ragenden Eichen in die Ruine einer großen, alten Kirche hinein. Sie hat kein Dach und der frische Schnee fällt auf den Boden und die Reste des steinernen Altars.
    Nirgendwo Licht. Ihre Augen gewöhnen sich langsam an das Dunkel.
    »Wo sind wir?«
    »In der Klosterruine Eldena. Caspar David Friedrich hat die Stimmung hier geliebt. Immer wieder hat er die Ruine in einsamen Winternächten gemalt.«
    »Friedrich? Der Romantiker? Von dem so viel in der Hamburger Kunsthalle hängt?«
    »Ich war noch nie in Hamburg. Und ich werde da wohl auch nie hinkommen. Aber hier in Greifswald hat er gelebt und gemalt. Magst du seine Bilder?«
    Jonas wendet sich Julia zu, hält mit seiner Rechten weiter ihre Hand und rückt mit der Linken ihre fellumrahmte Kapuze zurecht, sodass kein Schnee mehr in ihr Gesicht fällt.
    »So langsam kapiere ich, was man unter Romantik versteht«, sagt sie lächelnd. Julia wickelt ihren weißen Schal ab und legt ihn
    über seine vom Schnee klatschnassen Haare. Jonas versucht, sie zu küssen, doch Julia macht energisch einen Schritt zurück.
    »Was bildest du dir ein ? Hast du mich nur deswegen hierher gelockt?« Sie wird richtig wütend. »Bloß weil es in deinem Scheißland an der Transitstrecke keine Tankstelle gibt und du mir nachts auf einsamer Landstraße mit einem Kanister Sprit ausgeholfen hast, soll ich mich jetzt von dir küssen lassen?«
    »Hier, dein Schal«, sagt Jonas nur, streift ihn vom Kopf und reicht ihn ihr.
    Julia sieht sich um. Kein Mensch weit und breit. Dann blickt sie zum Himmel. Es hat aufgehört zu schneien. Zwischen Wolkenfetzen blitzen Mond und Sterne. Sie nimmt ihren Schal, hält ihn mit beiden Händen. Blitzschnell wirft sie ihn Jonas um den Nacken, zieht ihn zu sich heran und küsst ihn. Er fährt mit den Händen unter ihre Jacke und drückt sie an sich. Sie spüren die Wärme des anderen.
    »Das war aber ein schneller Gesinnungswandel«, flüstert Jonas.
    »Es gibt Augenblicke, in denen man nicht widerstehen kann.«
    »Ich habe noch nie eine Bundi geküsst.«
    »Was ist eine Bundi?«
    »Eine Bundesdeutsche. Oder West-Berlinerin.«
    »Ich bin weder das eine noch das andere.«
    »Aber dein Auto hat doch ein West-Nummernschild.«
    »Ich bin Amerikanerin.«
    »Das kann nicht sein! Du sprichst akzentfrei Deutsch.«
    »Meine Mutter ist Deutsche, mein Vater war amerikanischer Gl. Ich lebe in West-Berlin.«
    »Und was treibst du nachts mutterseelenallein auf einer ostdeutschen Landstraße? Bist du eine Spionin?«
    »Ja, ich bin eine Agentin in geheimer Mission.« Sie lacht. »Eigentlich fahre ich nur im Transit nach Schweden und wollte heute um Mitternacht die Fähre von Saßnitz nach Trelleborg nehmen.«
    »Hast du nicht Angst, dass du Ärger kriegst, wenn du die Transitwege verlässt?«
    »In Greifswald gibt es ein Interhotel. Wenn ich da ein paar Dollars lasse, darf ich für eine Nacht den Transit unterbrechen.« Zärtlich wickelt sie ihm wieder ihren Schal um den Kopf.
    »Woher hast du diese exotisch schöne Haut?« Jonas streicht ihr übers Gesicht. »Das ist mir vorhin schon aufgefallen, als wir in deinem Auto saßen und uns die Straßenkarte angeguckt haben. Eigentlich hatte ich Augen nur für dich.«
    »Mein Vater wurde in Kuba geboren und ist Viertelmulatte. In mir fließt ein Achtel karibisches Blut.«
    »Aber deine Haare sind strohblond ...«
    »Die habe ich von meiner Mutter, sie stammt aus Schleswig-Holstein. Der Rest ist Wasserstoffperoxid.«
    »Als ich dich an der Straße stehen sah, dachte ich, du bist ein Weihnachtsengel.«
    »Okay, dann bist du mein Prinz mit den schönen Augen. Als kleines Mädchen habe ich mir immer gewünscht, dass ich von einem Prinzen geraubt werde. Wohin entführst du mich jetzt?«
    »Wir klettern auf die Ruine!«
    »Da hinauf? In dieser Dunkelheit? Das schaffen wir nie!«
    »Du musst mir vertrauen«, sagt Jonas, nimmt ihre Hand und führt sie zu einem hohen gotischen Kirchenfenster. Sie klettern auf die brusthohe Brüstung. Der Spitzbogen, in dem sie nun stehen, ist mindestens dreimal so hoch wie sie. Die Mauer ist gut über zwei Meter breit. Jonas leuchtet kurz mit einem Streichholz und findet in der rechten Seite der
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