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Nur Engel fliegen hoeher

Nur Engel fliegen hoeher

Titel: Nur Engel fliegen hoeher
Autoren: Wim Westfield
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das Zentrum des ehemaligen Ostteils von Berlin. Fast zum Greifen nahe liegt der Fernsehturm.
    »Bitte tragen Sie sich hier ein«, wiederholt Frau Tulpenmüller.
    Christin nimmt den Kuli, beugt sich über den Tisch mit dem Besucherbuch und schreibt ihren Namen hinein. Mit einem missbilligenden Blick registriert Frau Tulpenmüller, dass die Schlitze an ihrer Jeans dabei weit aufklaffen.
    »In dieser Broschüre finden Sie ein Verzeichnis aller gängigen Abkürzungen, die die Stasi damals intern verwendete. Das werden Sie brauchen, wenn Sie die Akten einsehen. Bitte suchen Sie sich einen Platz aus.«
    Christin sieht sich wieder um. Vorn im Raum sitzt ein junger Mann mit kurzem Haar und moderner runder Brille. Er blättert zügig durch Aktenordner und hackt auf einem Laptop herum. Könnte ein Journalist sein, denkt sie. Am Tisch rechts neben ihm hat sich eine einfach gekleidete Frau mit grauem Haar platziert. Auch sie blättert in Akten, macht sich auf einem Blatt Notizen und hält in der linken Hand ein Taschentuch, mit dem sie sich Tränen aus dem Gesicht wischt.
    »Ich gehe ganz nach hinten«, sagt Christin. Sie wählt die helle Ecke vor den Fenstern und wirft einen Blick auf den Alexanderplatz. Frau Tulpenmüller schiebt zwei Wagen herein. Auf dem ersten liegen schwarze Aktenordner verschieden hoch gestapelt, auf dem zweiten stehen sie wie in einem Bücherregal nebeneinander.
    »Ist das alles für mich?«, fragt Christin unsicher.
    »In Ihrem Forschungsantrag haben Sie angegeben, dass Sie nach spektakulären Fluchtfällen mit selbst gebauten Flugapparaten aus den Jahren 1987 bis 1989 suchen. Wir haben insgesamt 13 Fälle gefunden.«
    »Sind die Akten namentlich sortiert?«
    »Nein. Sie werden beim Lesen feststellen, dass alle Klarnamen geschwärzt sind, ebenfalls die Adressen oder andere Hinweise, die die Identität der Betroffenen preisgeben könnten. Das verlangt das Stasi-Unterlagen-Gesetz. Lediglich den ersten Buchstaben des Vornamens haben wir stehen lassen. Dadurch können Sie sich besser orientieren beziehungsweise die Personen einem bestimmten Sachverhalt zuordnen.«
    »Und wenn ich doch die ganzen Namen wissen will?«
    »Das ginge nur, wenn es Ihre eigene Akte wäre. Und auch dann nur mit gewissen Einschränkungen. Doch das dürfte bei Ihnen ausgeschlossen sein, denn ich schätze, dass Sie noch in den Windeln lagen, als die Mauer fiel.«
    Christin streicht mit einer Hand vorsichtig über die Aktendeckel. Alle Ordner tragen die Aufschrift OPK, dann folgen römische und arabische Ziffern. Manchmal steht darunter auch eine Jahreszahl. Sie blättert im Abkürzungsverzeichnis und findet die Erklärung: Operative Personenkontrolle des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR.
    »Sie haben Ihren Forschungsantrag damit begründet, dass Sie für den Leistungskurs Geschichte Ihres Gymnasiums eine Projektarbeit über spektakuläre Fluchtfälle schreiben wollen. Das stimmt doch, oder?«
    Christin nickt.
    »Suchen Sie allerdings nach Akten von konkreten Personen, die Sie vielleicht kennen oder mit denen Sie verwandt sind, dann dürften Sie die Unterlagen erst einsehen, wenn Sie ein schriftliches Einverständnis der betreffenden Personen vorlegen.«
    »Nein, nein. Ich mache das fürs Gymnasium. Das Heinrich-Heine-Gymnasium. Es wird meine Abschlussarbeit, so wie ich es im Antrag geschrieben habe. Leistungskurs Geschichte.«
    »Dann ist die Anonymisierung korrekt. Hier auf diesem Wagen finden Sie die Akten zu zwölf Fluchtfällen. Jeder Stapel beinhaltet einen Fall beziehungsweise die Unterlagen zu einer Person. Auf dem anderen Wagen liegen 21 Ordner, die alle einen einzigen Fall beschreiben. Haben Sie noch Fragen?«
    »Nein.«
    »Sie können sich den ganzen Tag Zeit lassen. Um 18 Uhr schließen wir. Wenn Sie dann noch nicht durch sind, können Sie gern so oft wiederkommen, wie Sie es für nötig halten. Sie dürfen aus den Akten nichts entnehmen, und Sie dürfen sie weder beschriften noch irgendwie beschmutzen, einknicken oder andersartig markieren. Darum ist es auch nicht erlaubt, hier zu essen oder zu trinken. Kaffee und einen Imbiss erhalten Sie in der Kantine eine Etage tiefer.«
    Während Frau Tulpenmüller wieder am Aufsichtstisch Platz nimmt, zieht sich Christin den Wagen heran, auf dem die zwölf Fälle gestapelt liegen. Nacheinander nimmt sie sich die Ordner vor, blättert darin, als suche sie etwas Bestimmtes, und legt sie wieder zurück. Eine Stunde blättert und liest sie so. Ihr Notizzettel bleibt leer.
    Als
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