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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein
Autoren: Mary Mackey
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wären ihre Füße mit Knochenpflöcken am Boden festgenagelt.
    Wo stammt das her?« fragte Lilith und zeigte auf die Taube. Eine der Frauen sagte ihr, das Gold käme aus einem Tal im Westen, wo große Flüsse zu einem Salzsee strömten. Die Menschen, die an den Wassern lebten, zogen nicht in jeder neuen Jahreszeit zu neuen Weiden. Man erzählte sich, diese Menschen würden in dauerhaften Lagern leben, in Zelten aus Lehm und Erdreich, wo sie Frauen und Schlangen anbeteten.
    Die Worte der Frauen hallten in Inannas Geist wider.
    Große Flüsse... Dauerhafte Lager...
Also gab es neben dem Land von Kur noch andere Orte! Orte, an die sie mit Lilith entfliehen konnte! Inanna stellte sich vor, wie sie mit ihrer Schwester nach Westen reiste, bis sie in dieses Tal gelangten; und für einen Augenblick war sie wieder voller Energie, und sie fühlte sich, als könnte sie direkt zum Rauchloch hinauffliegen und noch vor dem Sonnenuntergang dort sein. Doch dann übernahm die Trübsal wieder die Oberhand. Lilith würde einer solchen Reise nie zustimmen. Schließlich heiratete sie Hursag.
    Am vorderen Ende des Zelts lachten die Frauen. Lilith war die lauteste von allen. Inannas Wangenknochen verkrampften sich, und ein wilder, wolfsartiger Zorn stieg in ihr hoch. Mit einem Mal drehte Lilith sich um und sah Inanna im Hintergrund, und das Lachen erstarb auf ihren Lippen. Lilith schob die überraschten Frauen beiseite, durchquerte rasch das Zelt und nahm ihre Schwester die Arme.
    »Was ist denn los mit dir?« Liliths Haar fiel in dichten Wogen über Inannas Gesicht, und das kleine Mädchen atmete den starken Aprikosenduft ein. Du gehst weg, wollte sie ihr sagen, du verläßt mich. Sie vergrub das Gesicht in Liliths neues Gewand und fing an zu weinen. Die große Schwester hob Inanna hoch, bis sie ihr ins Gesicht sehen konnte, und strich ihr sanft die schwarzen Haare aus der Stirn. Ihre Augen waren braun und hatten kleine violette Tupfer, und plötzlich wurde sich Inanna der Durchschnittlichkeit ihrer eigenen Augen bewußt und der knochigen Unfertigkeit ihres Körpers.
    »Hursag ist von unserem Stamm«, sagte Lilith. »Mein Zelt wird neben deinem stehen, und wir können uns sehen, so oft wir wollen.«
    »Aber wir können nicht mehr auf demselben Fell schlafen. Du mußt dich neben Hursag legen, und der stinkt wie ein alter Ziegenbock.« Die anderen Frauen begannen zu kichern und bedeckten ihre Münder mit den Handflächen. Wie sie die Frauen wegen ihres Lachens haßte! Aber Lilith lachte nicht mehr. Sie legte Inanna die Hände auf die Wangen und sah sie sehr ernst an.
    »In der Nacht, wenn es dunkel ist«, versprach sie, »krieche ich fort vom alten Hursag, schleiche mich in dein Zelt, und dann können wir zusammen bis zum Morgengrauen Pistazien knacken.« Inanna starrte Lilith an und versuchte, sich ihr Gesicht einzuprägen. Sie hatte das dumpfe Gefühl, daß bald nichts mehr so sein würde wie vorher.
    Draußen begrüßten die Trommeln die Dämmerung und die Ankunft der Braut. Hursag stand angetrunken am Hang, trug eine kostbare schwarze Robe und wurde an der einen Seite von Pulal und an der anderen von seinem Sohn Zu gehalten. Lilith fielen Zus lockiger schwarzer Bart und seine geraden Zähne auf, und sie sagte sich, daß Hursag daneben noch älter wirkte. Wenn sie geheiratet hatte, würde sie Pulal dazu bringen, ihr einen jüngeren Mann zu suchen; einen, der so schön lachen konnte wie Zu und ebensolche geraden Zähne hatte.
    Hursag beugte sich vor und überreichte Lilith die traditionellen wilden Gurken und Äpfel. Die Hand des alten Mannes zitterte, und als er schwankend einen Schritt zurückfuhr, rollte einer der Äpfel aus dem Korb. Zu bückte sich rasch und hob ihn auf. Als er sich wieder aufrichtete, traf es sich, daß er Lilith genau ins Gesicht sah. Zu errötete bis unter die Haarspitzen und trat rasch zurück, als sein Vater nach vorn schaukelte, um die Braut zu beanspruchen. Er packte Lilith an der Hand und zog sie ins Brautzelt. Zu sah den beiden mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck nach, wie ein Schläfer, den man zu abrupt geweckt hatte. Als der Brautschrei ertönte, fuhr er zusammen und wandte sich ab.
    Ich bin gerade Zeuge von etwas Wichtigem geworden, dachte Inanna, aber ich weiß nicht, worum es sich dabei gehandelt hat. Sie sah zum Brautzelt und ließ dann den Blick über den Hang, die nackten Bäume und den aschebedeckten Boden schweifen.
     
    Nach der Hochzeit begann das Fest. Als der Geruch von gebratenem
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