Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein
Autoren: Mary Mackey
Vom Netzwerk:
sollte er sich dann zusätzlich belasten? Schon sah man ihn, wie er seinen Speer schärfte, seine Axt schliff und Pläne für die nächste Schlacht schmiedete.
    Aber bis zum nächsten Kampf verging sehr viel Zeit. Die Wilden griffen in jenem Jahr nur noch einmal an, und nachdem Pulal Häuptling geworden war, kamen lange Monate unerträglichen Friedens, in denen der Stamm ganze Jahreszeiten hindurch unbelästigt von Weide zu Weide zog.
    Draußen schleuderte Kur Kränze aus gelbem und schwarzem Rauch in den Himmel. Enshagag reichte ihrem Sohn einen Schlauch Wein, und er trank ihn ohne ein Wort. Pulal wußte, daß seine Stärke nicht darin lag, Gedanken bis zur letzten Konsequenz zu Ende zu denken. Seine ganze Kraft entfaltete sich erst dann, wenn er in der Schlacht einem Gegner von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand. Er war nicht der Häuptling geworden, weil die Menschen seines Stammes ihn besonders liebten, sondern weil er so gut kämpfen konnte. Wenn der Rausch der Schlacht ihn überkam, konnte er andere mit sich reißen wie der Wind, der durch Asche fährt. Dann war er wie Kur; er füllte die Herzen seiner Männer mit Furcht.
    Aber wenn zuviel Zeit zwischen zwei Schlachten verstreichen sollte, würden sie ihn und seine Kraft vielleicht vergessen. Dann konnte Unruhe im Stamm aufkommen, und man bestimmte am Ende einen anderen zum Häuptling, einen, der sich besser dazu eignete, im Alltag zu führen. Die Menschenopfer, die er heute auswählen würde, würden die Furcht vor ihm noch eine Weile aufrecht erhalten, aber für wie lange konnte das reichen? Der Friede war sein größter Feind. Früher oder später würde er unter ihm verfaulen wie ein weicher Pfirsich, den nur noch die Fliegen beachten.
    Pulal warf den Weinschlauch zu Boden. Eines Tages würde er alles anders anfangen. Statt darauf zu warten, angegriffen zu werden, würde er alle Krieger der Schwarzköpfigen zusammenrufen und mit ihnen die Verstecke der Wilden überfallen und ausräuchern. Und sobald die Berge in seiner Hand waren, würde er sich vielleicht den Tälern und Ebenen zuwenden, wo, wie man sagte, die Städte standen. Pulal lächelte und genoß die wunderbare Vorstellung einer endlosen Folge von Schlachten.
    »Du siehst so glücklich aus, mein Sohn«, fiel Enshagag auf.
    Pulal umarmte seine Mutter. Von allen Frauen wußte nur sie, wie es in seinem Herzen aussah. »Ich bin auch glücklich«, sagte er. Er hob sie hoch und wirbelte sie herum, bis sie vor Lachen ganz außer Atem war. »Altes Weib, altes Weib«, sang er leise vor sich hin, »du bist so fett geworden wie ein Mutterschaf. Kein Mann kann dich
    mehr umfassen.« Als er sie wieder abgesetzt hatte, brachte sie ihm seine Axt und hielt sie liebevoll wie einen Säugling im Arm.
     
    Pulal hatte am Mittag seinen Auftritt, als der Himmel die Farbe einer alten Narbe angenommen hatte und die Luft zu heiß zum Atmen war. Er schritt durch das Lager und trug seinen vornehmsten Umhang, gewoben aus feiner Lammwolle und mit roten Flammen verziert. Als Inanna ihn sah, ergriff sie Liliths Hand so fest, daß ihre Fingernägel sich tief in die Handfläche der Schwester bohrten. In diesem Augenblick war ihre Liebe zu Lilith so groß, daß sie selbst in den Vulkan gegangen wäre, wenn sie damit ihre Schwester vor Pulal retten konnte. Lilith las diese Gedanken in Inannas Gesicht und lächelte sie an, um ihr zu sagen, wie töricht ihre Befürchtungen waren. »Mach dir keine Sorgen«, flüsterte sie, »er ist unser Bruder. Ich bin vor ihm sicher.« Sie kennt ihn nicht, dachte Inanna. Pulal zeigte mit seiner kupfernen Axt auf den jungen Mann zur Linken von Lilith und dann auf die Frau zu ihrer Rechten.
    »Ihr beide«, sagte er. Seine Stimme klang wie Honig, und das Lächeln auf seinen Lippen hätte man fast für echt halten können. Er spielte mit Lilith, spielte mit ihrem Tod, als handele es sich dabei um eines der Wettspiele, die er nachts im Zelt mit Enshagag und Tante Dug machte. Hinter Lilith hoben die Mütter der beiden Opfer bereits zu den Todesklagen an. Ihre Stimmen hoben und senkten sich wie das Geheul von Wölfen. Inanna bekam an den Armen eine Gänsehaut. Pulal hob wieder die Axt, und die kupferne Klinge funkelte im trüben Licht. »Du«, sagte er zu der Frau hinter Lilith. Pulal hob die Axt ein drittes Mal und zeigte damit direkt auf Lilith. Inanna spürte, wie sich die Knochen in ihrem Rücken zusammenzogen. Ihr Herz war wie ein Becher voll Blut, das über den Rand schwappte. Sie sah, wie Pulal
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher