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1001 Nachtschichten

1001 Nachtschichten

Titel: 1001 Nachtschichten
Autoren: Osman Engin
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Donnerstag, 10. Juni
    Tolles Leben habe ich: gestern Knast – morgen Hartz IV!
    Vor fünf Tagen wurde ich von der Polizei festgenommen, saß sogar wegen dringenden Mordverdachts im Gefängnis, durfte erst gestern wieder nach Hause, und heute erfahre ich, dass mir mein Meister in Halle 4 fristlos kündigen will.
    Für Abenteurer und Bandschiispringer ohne Seil mag das vielleicht eine richtig tolle Super-Gaudi sein, aber für mich ist das der absolute Super-GAU! Denn das ist leider weder ein Märchen noch ein Film.
    Selbst für einen Roman wäre so ein blöder Anfang glatter Selbstmord! Welcher vernünftige Mensch würde denn in der heutigen Zeit ein Buch kaufen, dessen Titelheld gleich auf der ersten Seite arbeitslos wird und bald für Jahre hinter Gitter muss? Wer identifiziert sich schon gerne mit einem schlecht gelaunten, dicken, alten, ausländischen Hartz-I V-Knastbruder ? Besonders, wo sich doch auf den aktuellen Bestsellerlisten nur Titel tummeln wie:
    ›Wer arm ist, ist selbst schuld! Fünf Tipps zur ersten Million!‹
    ›Dicke sind hässlich – schlank in zwei Tagen!‹
    ›Alt ist aut – in zehn Minuten zehn Jahre jünger!‹
    ›Glück ist machbar – werde Fernsehstar!‹
    ›Im Schlaf dünn und reich!‹
    Und dazu jede Menge kitschige Lav-Storys, die teils in romantischen, teils in sehr feuchten Gebieten vor lauter Häppy Ends nur so triefen.

    Diese Kündigungen finden bei uns in Halle 4 regelmäßig im Juni statt und heißen offiziell »Frühjahrsputz«. In diesem Jahr kann man sie auch problemlos »ethnische Säuberung« nennen, denn alle dreizehn Kollegen, die vor die Tür gesetzt werden, sind Ausländer. Alles Leute, die jahrelang mit mir zusammen in Halle 4 geschuftet haben.
    Mein Meister Viehtreiber ist erneut für diesen alljährlichen Zyklus zum Moderator auserkoren worden. Obwohl er heute die Mittagsschicht hat, ist er extra eine Stunde früher gekommen, um der Mannschaft von der Frühschicht die tollen »Abschiedsurkunden« persönlich zu übergeben.

    Die Kollegen verlassen einer nach dem anderen mit langen Gesichtern sein Büro. Viele der Kumpels müssen sich anschließend im Klo übergeben, nachdem der Meister ihnen die »Urkunden« übergeben hat. Ich bin der Letzte, ich bin als Dreizehnter dran. Letzte Nacht war auch noch Vollmond, und ich habe mich morgens beim Rasieren geschnitten, weil mich eine schwarze Katze brutal von hinten erschreckt hat, die sich dann später in meine kleine Tochter Hatice verwandelte. Es war also von vornherein klar, dass der heutige Tag nicht so toll verlaufen würde.

    Mein Meister Viehtreiber ist nicht einfach nur ein gewöhnlicher Industriemeister, nein, er hat gleich mehrere Qualifikationen. Hauptsächlich wird er aber dafür bezahlt – wenn er nicht gerade Leute vor die Tür setzt –, dass er in unserem Pausenraum ununterbrochen frauen-, schwulen-, tier- und ausländerfeindliche Witze erzählt.
    Unsere Belegschaft ist tarifvertraglich dazu verpflichtet, auf der Stelle laut zu lachen, wenn der Meister glaubt, einen Witz gemacht zu haben. Es ist sehr selten, dass ihm ein Witz mal gelingt. Ich persönlich habe es noch nie erleben dürfen. Trotzdem lache ich natürlich immer am lautesten. Es ist nun mal so, dass die Ausländer auf allen Gebieten des täglichen Lebens sehr viel mehr leisten müssen als die Eingeborenen, um akzeptiert zu werden.
    Ich gebe mal ein Beispiel seines grandiosen Humors: Eine Blondine, ein Schwuler, ein Türke und eine Oma mit Langhaardackel treffen sich …
    Aber wenn ich es mir so recht überlege, darf ich doch gar keine Witze über Frauen, Schwule, Senioren und Dackel erzählen – das ist politisch nicht korrekt! Als Türke habe ich nur die Lizenz, mich über Ausländer lustig zu machen. Besser gesagt, über Türken! Eigentlich sogar nur über Osmans! Über Osmans, die im Karnickelweg 7b wohnen, in Halle 4 arbeiten und mit Mädchennamen Engin heißen.
    Aber jetzt kann ich nicht mal mehr das. Heute ist mir nicht nach Witzemachen zumute.
    Vor Angst schlotternd und mit zittrigen Knien betrete ich das Büro von Herrn Viehtreiber. Der darf natürlich über alle Minderheiten herziehen und diese dann hinterherauch noch einfach feuern, wenn ihm danach ist. Der Mann hat’s wirklich gut!
    »Osman, mein Lieber, im Namen der Geschäftsleitung von Halle 4 bedanke ich mich recht herzlich für deine langjährige hervorragende Arbeit in unserem Betrieb«, ruft er mit aufgesetzt trauriger Miene. Wobei ihm sowohl der Text als auch die
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