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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein
Autoren: Mary Mackey
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die Axt erneut hob und lachte. Dann erklärte er Lilith, daß sie nicht zur Opferung vorgesehen sei. Das kleine Mädchen verlor die Besinnung.
    »Ich werde morgen mit Hursag verheiratet«, sagte Lilith ihr. Man
hatte Inanna ins Zelt zurückgetragen. Die schwarze Wolle flatterte
    im Wind, und die Zeltstangen bogen sich wie die nackten Bäume draußen. Wenn jemals die Sterne ausgehen sollten, dachte Inanna benommen, ist der Himmel so schwarz wie jetzt. Lilith tunkte einen Wollappen in kaltes Wasser und legte ihn auf Inannas Stirn.
    »Ich soll mit dem alten Hursag verheiratet werden«, sagte sie noch einmal. »Das war es, was Pulal mir mitteilen wollte. Stell dir nur vor, Hursag hatte schon drei Frauen. Er hat sie alle überlebt, und sein Sohn Zu ist älter als ich. Aber seine Ziegen! Kein Mann im Stamm hat mehr Ziegen als er. Was muß er da unserem Bruder für einen Brautpreis zahlen können!«
    Während sie weiter plapperte, fiel Inanna auf, daß die vergangenen Ereignisse sie überhaupt nicht berührten. Weder die Verwüstung des Landes noch ihr eigenes, nur knappes Entkommen vom Tod, nichts, gar nichts. Lilith schüttelte die weiße Ascheschicht von ihrem Haar und fing an, ihre Zöpfe mit Aprikosenöl einzureiben. Ihre Wangen waren rund glänzend, und ihre Augen schienen wie Sonne auf klarem Wasser. Liliths Brüste schwangen schwer und reif unter ihrem Umhang, und ihr Becken war rund wie das einer gebärfähigen Frau. Jedermann konnte deutlich sehen, daß es für sie an der Zeit war zu heiraten. »Wenn dieser Hursag bloß nicht so alt wäre«, sagte Lilith gerade. »Tante Dug hat gesagt, Pulal solle sich schämen, seine älteste Schwester mit so einem Greis zu verheiraten, aber ich sage, Ehemann ist Ehemann.«
    Lilith beugte sich hinunter und küßte Inanna auf die Wange, und das Mädchen roch das süße, angenehme Aroma vom Atem ihrer Schwester. Lilith hatte recht, sie waren in Sicherheit. Es machte nichts mehr aus, daß Gott zornig war. Es machte auch nichts aus, daß in eben diesem Moment die Männer und Frauen, die noch vor kurzem neben ihnen gestanden hatten, ins Feuer des Vulkans gestoßen wurden. Ihre Tode haben nichts mit uns zu tun, dachte Inanna.
     
    Sie schmückten die Braut, rieben ihren Körper mit Sesamöl ein und bemalten ihre Brüste. Inanna stand an der Rückwand des Zelts neben einer Kohlenpfanne voller süß duftender Kräuter und sah zu, wie die vier Frauen Kaurimuscheln und Bänder mit hell leuchtenden Perlen in Liliths Haar flochten. Die aufgeregten Stimmen der Frauen hoben und senkten sich wie Vogelgesang, während ihre Hände sich spielerisch und neckend das eine oder andere zuwarfen. Alle waren so glücklich, nur Inanna nicht. Das Gewicht ihres eigenen Unglücks lastete so schwer auf ihr, daß sie kaum noch die Kraft zu stehen aufbringen konnte. Sie sah Lilith zu, wie sie sich einen neuen Umhang aus hellbrauner Wolle überzog, und spürte, daß alle Energie aus ihrem kleinen Körper strömte. Es schien ihr so, als sei ihr Leben wie Wasser, das ihr Rückgrat hinablief und durch die Füße im Boden versickerte, wo es auf immer verloren war. Lilith sah in einen Spiegel aus blank poliertem Obsidian und lächelte über ihr Spiegelbild. Sie bemerkte Inanna überhaupt nicht, die dort hinten im Schatten stand. Eine der Frauen öffnete einen weißen Lederbeutel und zog eine Ziegensehne heraus. Daran hing ein kleiner, taubenförmiger Goldanhänger. Wie das Licht der Sonne, sagten die Frauen unentwegt, wie das reine Licht der Sonne. Sie hängten der Braut das Stück um den Hals und traten einen Schritt zurück, um sie besser anschauen zu können. Die goldene Taube war ein Hochzeitsgeschenk von Hursag, das er für zehn seiner besten Ziegen und einige Beutel voll bearbeitetem Obsidian eingetauscht hatte. Aber auch das konnte nicht dazu beitragen, daß Inanna den alten Mann nun besser leiden mochte.
    Lilith dagegen war von dieser nutzlosen Kleinigkeit entzückt. Sie drehte sich und posierte. Der Feuerschein spiegelte sich auf dem Gold an ihrem Hals. Die anderen Frauen berührten den Anhänger zögernd mit ihren Fingern, so als fürchteten sie, er könnte –wie das Sonnenlicht – von einem auf den anderen Moment verschwinden. Als Lilith sich ein zweites Mal drehte, glitt der feine braune Umhang wie eine Wolke um ihren Körper. Inanna wollte zu ihrer Schwester, wollte sie umarmen und ihr an ihrem Hochzeitstag Glück wünschen, aber sie konnte sich nicht von der Stelle bewegen. Sie fühlte sich so, als
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