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Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde

Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde

Titel: Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde
Autoren: Michael Hübner
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Zwei Jahre zuvor
     
     
     
     
     
     
     
    W ie gelähmt starrte er auf den Leichnam, der von der Decke der alten Scheune herabhing und um den Dutzende von Fliegen kreisten. Trotz des Taschentuchs, das er sich vor Mund und Nase hielt, raubte der Gestank ihm den Atem. Starr folgte sein Blick dem Verlauf des Seils, das um den rissigen Balken geknotet war, bis hinunter zu der Schlinge und dem angeschwollenen, blau verfärbten Gesicht. Milchige Augen quollen aus ihren Höhlen und sahen vorwurfsvoll auf ihn herab, als wollten sie fragen: »Warum?«
    Weil du schuldig warst , redete er sich ein, doch dieser Gedanke reichte nicht aus, um sein Gewissen zu entlasten. Sein Blick glitt bis zu den Füßen des Toten hinab, die über dem umgestürzten Melkschemel pendelten. Einer der Hunde, die frei auf dem Hof herumstreunten, hatte sich an dem rechten Fuß zu schaffen gemacht. Das Fleisch war bis auf die Knochen abgenagt. Ganz kurz war Sven Becker überzeugt, dass dies der schrecklichste Anblick in seiner ganzen Laufbahn als Polizist war. Doch dann erinnerte er sich an die toten Kinder, an ihre zerschundenen Körper, die nur notdürftig in einem Waldstück verscharrt gewesen waren, und er zwang sich, erneut in die trüben Augen zu schauen.
    Du warst schuldig , wiederholte er in Gedanken, als suche er nach einer Rechtfertigung für diesen Selbstmord. Aber warum kam ihm dieser Anblick dann so falsch vor? Warum fühlte er sich dann so schuldig?
    Es sollte zwei Jahre dauern, bis Kommissar Sven Becker darauf eine Antwort bekam. Denn exakt so lange schaffte es sein Gewissen, die Geschehnisse zu verdrängen, die in diesem Freitod ihren traurigen Höhepunkt gefunden hatten. Erst zwei Jahre später zwang ihn eine weitere Serie von Todesfällen dazu, sich erneut damit zu beschäftigen. Und diese Ereignisse, die mit dem Tod eines neunzehnjährigen Zivildienstleistenden begannen und später als gewaltiger Skandal in die Geschichte der Stadt Koblenz eingehen sollten, stürzten ihn in die schwerste Krise seines Lebens und hätten ihn beinahe das Leben gekostet.

1
     
     
     
     
     
     
     
    D onner!  … Nichts weiter. Nur dieser hohle, blecherne Donner, kurz bevor die Schwerkraft aussetzte und die Welt um ihn herum zu einem rasenden Karussell wurde. Ein abstruser Mischmasch aus Farben und Formen, die in seiner Wahrnehmung stetig tiefer zu einem dunklen Grauton verschmolzen. Dann der Aufschlag – hart, aber fern jeder Realität. Allmählich begann das Grau wieder Gestalt anzunehmen, sich in dunklen Umrissen zu festigen, die wie geisterhafte Schatten in der Dunkelheit vibrierten. Er spürte den warmen Asphalt unter sich, fühlte, wie das Adrenalin seinen Körper betäubte. Ein kurzer Moment zwischen Unterbewusstsein und Wahrnehmung, zwischen Dämmerung und Tageslicht, in dem er noch immer schwerelos war.
    Dann setzte der Schmerz ein.
    Mit dem Schmerz kam die Erinnerung zurück wie eine tonnenschwere Last. Und als ihm klar wurde, was passiert war, wünschte er sich, er wäre nie aus dieser Schwerelosigkeit erwacht.
    Nur widerwillig füllte sich seine Lunge mit Luft; es kam ihm vor, als atme er durch einen Strohhalm. Am meisten Angst jedoch machten ihm seine Beine. Alles an ihnen fühlte sich verdreht an, grotesk, irgendwie – falsch . Wie die losen Glieder einer Marionette, die man achtlos zu Boden geworfen hatte. Eine glühende Masse wabernden Schmerzes. Unmöglich, jetzt noch davonzurennen. Doch das hatte er ohnehin schon lange genug getan.
    Obwohl erst wenige Sekunden vergangen waren, konnte er sich nur vage daran erinnern, wie er die Straße mit gesunden, mit richtigen Beinen überquert hatte. Mit Träumen und mit einer Zukunft. Er erinnerte sich nur an den Schock und an die Unfähigkeit zu reagieren. Daran, wie sein Kopf auf die Motorhaube geschlagen war. Danach hatte sein Verstand abgeschaltet, hatte ihm vorenthalten, wie er gegen die Frontscheibe und über das Wagendach geschleudert worden war. Erst nachdem er hier, im grellen Licht einer Straßenlaterne, liegengeblieben war, schien ein Teil seines Bewusstseins entschieden zu haben, ihn wieder an der Situation teilhaben zu lassen. Und diesen bewussten Teil seines Selbst verfluchte er nun, denn er erinnerte ihn daran, wer er war: Erik Jensen, ein Verlierer vor dem Herrn, der um jeden Preis zum Gewinner werden wollte und der nun die Rechnung dafür präsentiert bekam.
    Ein Blutschwall schwappte aus seinem Mund, nahm ihm die wenige Luft zum Atmen, die ihm noch blieb. Er röchelte,
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