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Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman

Titel: Oktoberplatz oder meine großen dunklen Pferde - Roman
Autoren: Klöpfer&Meyer GmbH & Co.KG
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Tümpel, so tief, daß auf ihrem Grund Höhlen sein könnten
    Ich habe Draht gekauft. Draht zum Überbrücken der Sicherung. Und einen Pürierstab, dieselbe Marke, dasselbe Modell, das mein Tantchen dazu benutzt, um ihren Tag mit einem Bananen-Shake zu beginnen.
    Weil die Metro voll war, wie immer um diese Zeit, ging ich in ein Schnellrestaurant an der Njamiha und stopfte mich mit Bliny voll, bis mir schlecht wurde, bis sich mein Magen umstülpte, wieder und wieder, bis er leer war, entspundet. Dann setzte ich mich zurück an meinen Tisch, den Schweiß noch auf der Stirn, und während um mich her die Idiotie einer Pubertierenden-Selbstfindung mit Klingeltönen und MTV Russia tobte, machte ich mich daran, den Pürierstab mit meinem Taschenmesser aufzuschrauben.
    Es begann zu regnen, zu schneien, zu regnen. Ich ging zu Fuß bis zur Station Maladzjozhnaja, den Kragen meines Hemds hochgeschlagen, den Wintermantel trug ich unterm Arm, ein Paket unter vielen. Ich spürte, wie meine Brustwarzen unter dem Synthetikstoff prall wurden, gegen die Kälte rebellierten. Die letzten hundert Meter sprintete ich, harte lange Schritte auf den Ballen. In der Metro rieb sich meine klatschnasse Kleidung an den Businessjacken der mich Umdrängenden, die sich angewidert von mir wegzudrehen versuchten. Erfolglos.
    Zuhause habe ich Kaffee gekocht, habe mich hingesetzt, bin wieder aufgestanden, habe mich hingesetzt, habe nicht vondem Kaffee getrunken. Der Sekundenzeiger der Uhr pulsierte vor meinem Auge, in meinen Augen.
    Die leitenden Teile im Inneren des Pürierstabs so mit dem Einschalter zu verbinden, daß auf dem Knopf Strom fließt, ist ein Leichtes. Strom durch den Knopf durchzuleiten, ist ein Leichtes, man muß nur ein wenig mit dem Messer an seiner billigen Plastikabdeckung kratzen. Mein Tantchen ist Linkshänderin. Der Strom wird unmittelbar zu ihrem Herzen vorstoßen. Der Pürierstab liegt in der Faust. Die Faust ist fest um das Instrument geschlossen. Verkrampft.
    Ich schütte die Kanne Kaffee aus. Der Sekundenzeiger der Uhr pulsiert.
    Der Sicherungskasten von Tantchens Wohnung befindet sich im Bad. Während eines Stromausfalls hatte ich versucht, die vermeintlich defekte Sicherung zu wechseln. Mit der Taschenlampe im Mund habe ich – nackt, auf Zehenspitzen – vor dem Kasten gestanden und eine nach der anderen raus- und wieder reingeschraubt, während mein Tantchen von hinten durch das Delta griff, das meine Oberschenkel mit den Bodenfliesen bildeten, und mit fünf schwarzlackierten Fingernägeln meine Hoden streichelte. Bis sie nach einem Blick aus dem Fenster feixte, daß das ganze Viertel ohne Licht sei. Ich drehte mich zu ihr um, sie biß in das andere Ende der Lampe, zog sie mir aus dem Mund, wir haben den Sicherungskasten wieder zugeschlossen, und, statt auf Licht zu warten, zweimal Sex im Stehen gehabt. Zehnmal Schwarzlackiertes verkrallte sich in die Küchengardine. So habe ich ihr vor einem dreiviertel Jahr beim Umzug geholfen, beim Sicheinleben in ihre neue Stadt. Mjensk. Minsk.
    Rechts von mir: mein Messer, meine Zange. Und zu meiner Linken: Draht, Draht zu meiner Linken. Wenn man ihn richtig anbringt, wird es nach Schludrigkeit aussehen, nachderselben Schludrigkeit, mit der wir jahrzehntelang unser Haus instand gehalten haben. Vielleicht auch nach der Faulheit eines Vormieters, der, um die kaputten Sicherungen nicht ständig wechseln zu müssen, sie einfach überbrückt hat.
    Der Sekundenzeiger der Uhr.
    Stromstärken von mehr als 50 Milliampere, so habe ich gelesen, sollen ausreichend sein, um das somatische Nervensystem zu zerstören. Steigen sie über eine Sättigung von 150 Milliampere: Exitus. Die Elektrokution wird wie ein bedauerlicher, wie ein bescheuerter Unfall wirken. Die meisten Menschen sterben zuhause. An und mit ihren Haushaltsgeräten, den Föhn, den Pürierstab, die Bohrmaschine noch in der Hand. »Na, was soll’s?!« wird der Pathologe sagen, und er wird ein Tuch über Tantchens Gesicht ziehen. Vorsichtig wird er dabei zu Werke gehen, sie nicht berühren, um das gesottene Fleisch nicht von den Knochen zu lösen. Wegen der Verbrennungen an der Hand und am Arm werden sich Eiterblasen gebildet haben, die wie kleine rote Tümpel aussehen. Tümpel, so tief, daß auf ihrem Grund Höhlen sein könnten, Höhlen mit Gängen, die man schwimmend durchqueren, durch die man auf die andere Seite hinübergelangen könnte.
    Der Sekundenzeiger. Der Sekundenzeiger.
    Das Haus steht immer offen. Ein Ersatzschlüssel
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