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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein
Autoren: Mary Mackey
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im nächsten Herbst, als alle Stämme der Schwarzköpfigen sich am Kur versammelten, bekam der Vater seinen Willen, trotz aller Bemühungen seiner Freunde. Er bot sich selbst als Opfer für den Vulkan an, und Pulal – der noch gar kein richtiger Mann war –wurde unser Häuptling.«
    Draußen nahm der Himmel die Farbe von Lapislazuli an, und ein einzelner Stern erschien. Die Erde färbte sich grau wie Ziegenbein, und Rauchfäden stiegen von den Kochfeuern auf und zerfaserten wie Spinnweben, als sie in die kalte Nachtluft gelangten. In der Ferne heulte ein Wolf zweimal und schwieg dann. In den wilden Pistazienbäumen falteten die kleinen Vögel ihre Flügel zusammen. Berge im Westen; eine Ebene im Osten; dazwischen ein Kreis aus schwarzen Zelten, um den herum die Herden der Kur weideten. Wohin gehe ich, wenn ich schlafe? fragte sich Inanna. Sie rollte sich neben der Schwester auf dem warmen Vlies zusammen und schloß die Augen.
     

II
    Der große Gott Kur war zornig. Der Staub seines Atems bedeckte die Eiben und färbte die Wolle der Schafe grau. Er drang Inanna in die Nase und brannte ihr wie Seifenkraut in den Augen. Er kam wie schwarzer Regen vom Himmel, bildete einen dicken Schmutzfilm auf der Milch, klebte an den feuchten Stellen in ihren Achselhöhlen und knirschte zwischen den Zähnen, so daß Inanna schon glaubte, sie bisse auf Schalen. Als sie eine Hand auf den Boden legte, konnte sie Kurs Zornesbeben spüren. Und in der Nacht füllte Er den Himmel mit Feuer und die Luft mit sonderbaren Gerüchen. Was haben wir falsch gemacht? fragte sie sich. Inanna war jetzt fast neun, alt genug, um zu wissen, daß man nicht mehr viel tun konnte, wenn die Dinge einmal in Bewegung geraten waren. In den letzten zwei Jahren hatte Enshagag sie nur am Zelteingang schlafen lassen, damit sie als erste aufstehen und das Feuer anmachen konnte. Aber hier am Berghang gab es kein Holz. In diesem Jahr hatte Kur selbst jeden Baum verbrannt.
    Als Inanna ihren Blick über das Lager schweifen ließ, sah sie nur nackte, verkohlte Stämme, die wie Skelette aus dem Boden ragten, und die Zelte vom Volk der Schwarzköpfigen die hier zusammengekommen waren, um Vergebung zu erflehen. Fünf junge Männer und fünf junge Frauen sollten Kur an diesem Tag geopfert werden. Pulal oblag es, sie auszuwählen.
     
    Pulal stand steif da, während Enshagag den schweren weißen Umhang über seinen Kopf zog und dann die Falten geradezupfte. Seine Mutter war die einzige Frau, der er sich unterwarf. Allen anderen Frauen begegnete er nur mit Verachtung. Sie waren in seinen Augen nur schwächliche, winselnde Wesen, und ein Mann, der sich mit ihnen einließ, verweichlichte und war bald nicht mehr fähig, in die Schlacht zu ziehen. Dabei war es doch die Bestimmung des Mannes, ein Krieger zu sein. Nichts durfte ihn davon abbringen.
    Pulal war fest überzeugt davon. Als Junge, bevor er den Schaft eines Speeres in seiner Hand gespürt hatte, war er immer unglücklich, unausgeglichen und sich selbst gegenüber fremd gewesen. Und die jungen Mädchen hatten ihn gehänselt, hatten auf seine Narbe gezeigt und »Hyänengesicht« gerufen. Als sein Vater eine jüngere Frau genommen hatte, war er nicht stark genug gewesen, seine Mutter zu trösten. Seine Kindheit war voller Schmerzen gewesen, eine einzige Kette von Demütigungen.
    Aber am Tag seiner ersten Schlacht hatte sich seine ganze Welt gewandelt. Die älteren Männer waren davon überzeugt gewesen, daß er sich als Feigling erweisen würde. Pulal hatte gehört, wie sie sich in der Nacht zuvor zugeflüstert hatten, Cabtas Sohn würde schon beim ersten Anblick eines Wilden die Flucht ergreifen. Und er war gerannt, aber nach vorn, und er hatte die Wilden so unbarmherzig verfolgt, daß seine eigenen Leute ihn schließlich zurückreißen mußten. Eine Freude hatte ihn durchströmt, schöner noch als Wein, besser noch als jede Frau, und inmitten des Staubs, des Bluts und des Getümmels, hatte er sich selbst gefunden. Und fortan wußte er, daß er für die Schlacht geboren war.
    Nach dem Kampf waren ihm die älteren Männer mit mehr Respekt begegnet. An allen Lagerfeuern erzählten sie davon, daß Pulal wie ein Mann gekämpt habe, in dessen Geist ein Gott wohne. Und es erhob sich nach dem Tod seines Vaters kein Widerspruch, daß er der neue Häuptling werden solle. Zum erstenmal wurden ihm Frauen zugeführt, aber er hatte weder Zeit noch Interesse für Frauen. Seine Mutter versorgte ihn mit allem, was er brauchte; warum
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