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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein
Autoren: Mary Mackey
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das Kind des Bösen, war sein Bote.
    Rheti blieb stehen, um wieder zu Atem zu kommen, und verfluchte den heftigen Regen, der sie in den letzten drei Tagen so aufgehalten hatte. Alles war mehr oder minder schiefgelaufen auf dieser Reise, und jetzt stand auch noch zu befürchten, daß sie
zu
spät kommen würde, daß sich der entscheidende Teil der Verschiebung ohne sie vollziehen würde. Verflucht sei alles! Noch bis vor ein paar Monaten hatte sie sich vorgestellt, der Wandel würde keine Schwierigkeiten bereiten, aber dann, am zwölften Tag des Gerstenmondes, war die Königin zu ihr gekommen, hatte zögernd von sonderbaren Zeichen berichtet und von Rheti verlangt, sie
zu
deuten. Ein grüner Feuerball erscheine Nacht um Nacht über den Bergen im Osten, hatte die Königin gesagt, und die heiligen Schlangen würden sich zwischen den Wurzeln der Olivenbäume verkriechen und sich weigern, die Milch zu trinken, die die Bittsteller ihnen anboten. Als Rheti all dies hörte, erkannte sie sofort, daß bald ein gefährlicher Feind das Licht der Welt erblicken sollte. Die Hohepriesterin machte sich noch in derselben Nacht auf den Weg, diesen Feind
zu
finden und ihn
zu
töten, bevor er das Gleichgewicht der Dinge in Unordnung bringen konnte.
    Sie hörte, wie der Eunuch an ihrem Ellbogen vom beschwerlichen Aufstieg heftig keuchte. »Wo sind wir?« wollte Rheti plötzlich von ihm wissen und zupfte an seinem zerschlissenen Ärmel. Oh, es war die Last, die sie in ihrem Leben
zu
tragen hatte, daß sie blind und von solchen Tölpeln als Wegführer abhängig war. Und erst recht an einem Tag wie diesem!
    »Immer noch auf dem Bergkamm,
Muna«,
sagte der Eunuch, als er einmal
zu
Atem kam. Die Luft hier oben war dünn und klar, so dünn, daß sich Rheti
kurz
etwas benommen fühlte. Sie bückte sich ein wenig und war wieder mit der Erde verbunden, als sie die Festigkeit des Berges unter ihren Füßen spürte. Dann schloß sie die blassen Lider über die blinden Augen und neigte den Kopf. »Steht
zur
Rechten ein Eichenwäldchen, und erhebt sich direkt darüber ein großer Felsen, der wie die Kinnlade eines Ochsen geformt ist?« fragte sie weiter.
    »Ja,
Muna«,
antwortete der Eunuch. Keine Überraschung war in seiner Stimme. Seit Wochen führte sie, die Blinde, sie beide, als wäre sie eine Sehende, tiefer und tiefer in die östlichen Berge, bis die Sandalen abgenutzt waren und von den Füßen fielen und der Eunuch schon befürchtet hatte, er müsse vor Hunger und Erschöpfung sterben.
    »Gut«, sagte Rheti, »dann haben wir es ja bald geschafft.« Sie packte den Eunuchen an der Schulter und schob ihn vor sich her. Die Hohepriesterin konnte an nichts anderes als daran denken, daß sie sich beeilen mußten, wenn sie nicht
zu
spät kommen wollten. Das gefährliche Kind wurde in dieser Minute im Lager der Nomaden geboren, das wußte Rheti
nur zu
gut. Gerade eben, als sie die Augen geschlossen hatte, hatte sie gespürt, wie sich der Kopf des Säuglings durch den Muttermund preßte. Bevor die Geburt abgeschlossen war, mußte Rheti sie aufhalten. Natürlich nicht sie persönlich. Die Hohepriesterin und der Eunuch würden nie an den Hunden der Nomaden vorbeikommen, ganz zu schweigen vom Zelt, in dem die werdende Mutter lag, aber bald ...
    Der Pfad knickte plötzlich scharf ab, und Rheti fiel fluchend auf ihre Knie. Bevor der Eunuch ihr aufhelfen konnte, stand sie schon wieder auf den Füßen und rannte den Hang hinunter. Büsche, hohes Gras, noch mehr Büsche. Die Zweige schlugen ihr ins Gesicht, und in ihrer Nase war der scharfe Geruch von Wacholdernadeln. Urplötzlich blieb sie stehen, so als würde sie etwas hören. Der Eunuch hielt ebenfalls im Lauf inne, aber seine Ohren vernahmen nichts. Rhetis bleiche Wimpern flatterten, und ein leises Lächeln überzog ihr Gesicht. »Teile die Büsche«, befahl sie. Der Eunuch zog gehorsam die Wacholderzweige beiseite. »Und jetzt sag mir, was du siehst.«
    »Eine Wiese,
Muna,
auf der Ziegen weiden, und einen Nomadenjungen, der sie hütet.«
    »Ein großer Junge mit einer schlangenförmigen Narbe auf einer Wange, der gedankenverloren dasitzt und einen verdrossenen und unglücklichen Eindruck macht?«
    »Ja, Muna.«
    Die Verschiebung rollte wie eine riesige Woge auf sie
zu.
Rheti fühlte, wie sie ihr die Luft aus dem Körper zerrte und sie hoch und aus sich selbst riß, bis sie kaum noch stehen konnte. Die Hohepriesterin schloß die Augen und kämpfte sich Stufe um Stufe in ihrem Geist hinab, bis sie eine
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