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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein
Autoren: Mary Mackey
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ruhige Zone fand; dort, wohin die Energie noch nicht gelangt war. Langsam konzentrierte Rheti ihre Kraft, griff nach dem Geist des Jungen und fand ihn offen. Ein ungeformter Geist, immer noch kindlich, aber bereits voller schöner Gedanken und Wünsche. Dann sah Rheti den Haß, die Eifersucht und den Stolz des Jungen; starke Gefühle, die die Hohepriesterin überschwemmten, und sie wußte, daß ihr keine zu schwere Aufgabe bevorstand. Rasch suchte sie in seinen Gedanken, bis sie das gefunden hatte, wo sie ansetzen konnte:
    Die neue Frau meines Vaters bekommt ein Kind, und ich ...
»Hasse sie«, flüsterte Rheti ihm ein.
    Ich hasse sie ...
    »Und auch das Kind...«
    Und auch das Kind .
    »Und ich werde sie beide töten . . .«
    Und ich werde sie beide töten ...
    »Denn das ist recht und gut, weil sie es verdienen ...«
    Denn das ist recht und gut, weil sie es verdienen zu sterben.
»Wolfs-Weib und Wolfs-Kind ...«
    Wolfs-Weib und Wolfs-Kind, hasse sie, hasse auch das Kind, töte sie beide, sie verdienen zu sterben... aber wann?
    »Jetzt!« dachte Rheti mit aller Kraft. »Jetzt!« Aber es war
zu
spät. Die Verbindung schwankte und brach dann von einem Moment auf den anderen ab. Der Geist des Jungen war fort, bevor sie ihm den letzten und entscheidenden Befehl geben konnte. Einen Augenblick lang begriff Rheti, daß sie gescheitert war. Der Junge würde nichts tun, und das Kind blieb am Leben.
    Dann kam die große Verschiebung, und lange Zeit ertönte kein anderes Geräusch als der auf sein Ende zueilende Strom der Zeit.
     

I
    Das erste, woran Inanna sich erinnern konnte, war ihre Schwester Lilith, die sie um die glimmenden Lagerfeuer herum jagte und ihre Wangen mit Schnee einreiben wollte. Sie erinnerte sich an Liliths Lachen, hell und klar wie eine Ziegenglocke, an die Wärme ihrer Brüste und an den Duft ihres Aprikosenöls, mit dem sie ihr schwarzes Haar glättete. Wenn Lilith Inanna fing und sie an sich drückte, wußte das kleine Mädchen, daß dies Liebe war. Wie ich jeden bedaure, der keine Schwester hat, dachte Inanna. Wenn sie nachts neben ihrer Schwester auf dem Bündel warmer Vliese lag, lauschte sie Liliths Atem und wußte, daß sie beide immer zusammen sein und sich niemals etwas ändern würde.
    Doch tief in ihren Gedanken verborgen war ihr bewußt, daß das ein Traum bleiben mußte. Im Stamme Kur blieb nichts lange gleich. Jeden Abend stellten die Frauen die Zelte dort auf, wo das Gras am saftigsten war, und jeden Morgen zogen sie die Knochen-. pflöcke wieder heraus, löschten die Feuer und zogen weiter. Wenn jemand Inanna gefragt hätte, wie die Welt aussähe, hätte sie sicher geantwortet: »Sie ist ein langer Zug, der nirgendwo hinführt.« Und manchmal war es ein harter, beschwerlicher Zug voller Gefahren. Im Frühling kamen nackte Wilde mit schmutzigen roten Haaren und legten sich auf die Lauer, um jedes Kind zu fangen, das sich vom Lager entfernte und verlief. Die Wilden rissen kleine Mädchen an den Füßen hoch. und schlugen ihnen an einem Felsen das Gehirn aus dem Kopf. Oder sie entführten kleine Jungen so weit fort, daß ihre Familien sie nie mehr wiedersehen würden. Weitaus Schlimmeres noch widerfuhr den jungen Mädchen, die die Wilden fingen, aber Inanna erfuhr nie, was mit ihnen geschah. Sie wußte nur, daß diese Frauen nie zurückkehrten. Dann legten die Männer des Stammes ihre Amulette an, schärften ihre Speere und folgten Inannas Bruder Pulal, bis auf allen Stangen rund um das Lager Köpfe der Wilden steckten und die Ehre der Kur wiederhergestellt war.
    Wenn Pulal nach der Schlacht Inanna berührte, war seine Haut so kalt wie ein nasser Stein, und das Mädchen fuhr vor ihm zurück in Liliths Arme. Er liebt es zu töten, dachte sie dann, wenn sie ihrem Bruder ins Gesicht sah. Die schlangenförmige Narbe auf der rechten Wange verzog seinen Mund zu einem schiefen Lächeln. Seine gelben Zähne waren angestoßen, und etwas Säuerliches war in seinem Atem, das Inanna sofort an Käse denken ließ. Pulal tat wieder so, als wollte er die jüngere Schwester umarmen und liebkosen, aber Inanna spürte den Zorn in seinen Händen.
Wie er mich hassen muß,
dachte sie in solchen Augenblicken. Kurz gelang es ihr, ihn ebenso zu hassen. Ihre grünen Augen verengten sich wie bei einem Wolfskind, aber viel zu rasch wurde ihr die eigene Machtlosigkeit bewußt, und sie brach in Tränen aus. Sobald sie wieder im Zelt war, hielt Lilith sie lieb und erzählte ihr zur Beruhigung eine Geschichte. »Ich will
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