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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein
Autoren: Mary Mackey
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wissen, wie ich hierher gekommen bin«, bettelte Inanna in solchen Fällen. »Ich will wissen, wie ich auf die Welt gekommen bin.«
    »Deine Mutter Nintu war sehr schön«, begann Lilith stets. »Ihr blauschwarzes Haar war dicht und glänzend; ihr Gesicht hatte die Farbe von Rehfell; ihre Brustwarzen waren wie saftige Beeren. Als unser Vater Cabta sie zum erstenmal sah, war sie erst zwölf Jahre alt. Sie spielte gerade mit einem Wollball, und er rollte ihm vor die Füße. Cabta war ein großer Krieger und Häuptling des Stammes, und er verliebte sich so heftig in sie wie ein junger Bursche.« Inanna drängte an dieser Stelle immer näher an die Schwester und legte den Kopf auf ihre Brüste. Mutter und Vater haben sich sehr geliebt, dachte sie dann, und dieser Gedanke füllte sie mit Wärme an, so als hätte sie einen ganzen Beutel warmer Milch getrunken. »Aber deine Mutter war aus einem anderen Stamm des Volks der Schwarzköpfigen«, fuhr Lilith dann fort. »Ihre Leute verehrten die Erdmutter Ki statt des Vulkangotts Kur. Als Nintu dann zu uns kam, war ihre Art nicht die unsere, und ich glaube, sie hat sich sehr einsam gefühlt. Unser Vater hat viele Ziegen für sie bezahlt. Niemals in der Geschichte unseres Volks ist ein so hoher Brautpreis aufgebracht worden, und viele Frauen wurden eifersüchtig. ›Was glaubt diese Nintu denn, wer sie wäre?‹ fragten sie einander. Und wenn deine Mutter die Ziegen melkte, sprachen die anderen Frauen nicht mit ihr, und manchmal traten sie ihr auch den Korb um. Aber im Lauf der Zeit hat deine Mutter auch ihre Herzen gewinnen können, und bald liebte sie jeder, bis auf Enshagag, die erste Frau unseres Vaters.
    Enshagag haßte Nintu wegen ihrer Jugend und Schönheit. Einige sagen, es wäre Enshagag gewesen, die Pulal erzählt hätte, deine Mutter sei ein Wolfs-Weib. Und weil er ihr glaubte, hat Pulal, der damals noch ein Junge war, am Tag deiner Geburt etwas Entsetzhiches getan. Deshalb haßt Pulal mich also, weil er meiner Mutter etwas Böses zugefügt hat und sich jetzt dessen schämt.« Manchmal, wenn Inanna durch die Zeltöffnung spähte, sah sie Pulal, der nun ein erwachsener Mann war, zusammen mit seiner Mutter am Feuer stehen, und sie fragte sich, wie die beiden nach ihrer Untat noch so ruhig weiterleben konnten. Lilith bemerkte Inannas Blick des öfteren und senkte dann ihre Stimme, bis sie so leise war wie das Pfeifen des Windes im Gras.
    »Als deine Mutter mit dir niederkam«, flüsterte Lilith, »betrat Pulal das Geburtszelt, obwohl dort Männern der Zutritt verboten ist, und belegte Nintu mit einem Fluch. Ich war damals noch ein kleines Mädchen, aber ich habe ihn genau erkannt. Ich hatte Dornen-zweige ins Feuer nachzulegen, während die Hebamme deiner Mutter dabei half, dich auf die Welt zu bringen. Nintu hatte ein schmales Becken, und sie mühte sich schon seit drei Tagen mit dir ab, als Pulal kam, um sie zu verfluchen. Er hatte einen Stein vom heiligen Berg des Kur gestohlen, und als die Hebamme gerade nicht hinsah, berührte er deine Mutter damit am Schenkel, und sie begann zu bluten. Nachdem du geboren warst, strömte das Blut wie Wasser zwischen ihren Beinen, und als die Hebamme sah, daß für deine Mutter keine Hoffnung mehr bestand, reichte sie dich Nintu für einen Abschiedssegen.«
    »Wie hat meine Mutter mich gesegnet? Was hat sie gesagt?«
    »Sie hat dich überall nach einem Zeichen abgesucht«, flüsterte Lilith, griff nach Inannas Hand und löste die Finger von der Handfläche. Im Zentrum von Inannas Handfläche liefen die Linien zu einem kleinen, regelmäßigen Stern zusammen. »Als deine Mutter das sah, sagte sie ›Nie zuvor hat ein Kind ein solches Zeichen getragen.‹ Sie küßte dich hier«, Lilith berührte Inannas Handfläche, »und da«, sie berührte die Stirn des Mädchens. »Deine Mutter wußte, wie es um sie stand. Sie hatte Angst, die anderen würden dich beim Weiterziehen zurücklassen, deshalb hat sie dich mir gegeben.« Lilith fuhr mit ihren Händen durch Inannas Haar und zog sie näher an sich heran. »Du bist das einzige, das man mir je anvertraut hat«, sagte sie lächelnd. Liliths Worte waren jedesmal die gleichen, kamen ihr stets in der gleichen Reihenfolge über die Lippen. Und immer, wenn Inanna sie von Lilith hörte, fühlte sie sich geborgen.
    »Als deine Mutter gestorben war, hat unser Vater vor Kummer fast den Verstand verloren. Die anderen mußten Tag und Nacht bei ihm bleiben, um zu verhindern, daß er Hand an sich legte. Aber
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