Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Mann wie ein Erdbeben

Ein Mann wie ein Erdbeben

Titel: Ein Mann wie ein Erdbeben
Autoren: Heinz G. Konsalik
Vom Netzwerk:
1
    Robert Barreis, zuerst von seiner Mutter und später von allen, die ihn liebten und haßten, küßten und verfluchten, bewunderten und fürchteten, zärtlich Bob genannt, war mit vier Jahren ein außergewöhnlich hübsches, ja geradezu schönes Kind. Blonde Locken rieselten seidenglänzend bis auf seine Schultern; große, blaue, runde Augen spiegelten den tiefen See klarster kindlicher Unschuld. Tante Ellen, bei der er am liebsten auf dem Schoß saß, fand dafür die richtigen Worte. »Wie ein Engel!« rief sie und küßte Bob auf die Augen. »Mein Gott, wie ein Engel!« Daß seine kleinen Händchen sich an ihren Brüsten festklammerten, betrachtete sie als natürlichen Spieltrieb.
    Mit sechs Jahren stach Bob vier Hühnerküken die Augen aus. Er weilte damals zu Besuch auf dem Landgut seines Onkels Hermann und benutzte für die Blendung der kleinen Hühner einen rostigen Draht. Onkel Hermann ermahnte ihn, schilderte ihm die Leiden der Küken, und Bob weinte.
    Sein achtes Lebensjahr stand im Schatten des Todes seines Vaters. Hans Barreis, Fabrikant und Herr über dreitausend Arbeiter und Angestellte, Schützenkönig von Vredenhausen, Gründer des Reitervereins, Mäzen der Fußballmannschaft, aktives Mitglied der Sangestafel ›Polyhymnia 99‹ und Aufsichtsratsmitglied von siebzehn Aktiengesellschaften, wurde auf dem Hof seiner Fabrik überfahren. Ganz ordinär: Ein Lastwagen setzte zurück, und Hans Barreis geriet unter das linke Zwillingsrad, weil er im toten Winkel des Rückspiegels stand. Bob weinte nicht am Grab, aber man nahm seine merkwürdig glimmenden Augen für echte Trauer. »Der Schmerz versteinert den armen Jungen«, flüsterte Tante Ellen ergriffen. »Seht nur, wie tapfer er sich hält!« Am Abend des Tages, der Bob zum Halbwaisen machte, warf er auf dem breiten Flur in der ersten Etage der Barreis-Villa ein breites, scharfes Küchenmesser nach dem Hausmädchen Tilla Budde. Das Hausmädchen schwieg verschüchtert, denn Bob sagte: »Wenn du das Mama erzählst … ich weiß, daß du mit Papa im Bett gelegen hast, als Mama verreist war.«
    Als Bob das zehnte Lebensjahr erreicht hatte, erkor er die Blicke durch Schlüssellöcher zu seinem Sport. Am meisten zog ihn das Schlüsselloch des Gesindebadezimmers an. Hier hockte er fast jeden Morgen und – wenn er sich unbemerkt wegschleichen konnte – auch des Abends, wenn sich das neue Hausmädchen Margot Haberle wusch, badete oder anderes tat, denn in gerader Blickrichtung von seinem Beobachtungsposten fiel sein Blick auf das Toilettenbecken.
    Margot Haberle überraschte ihn einmal bei seinen Studien oder vielmehr: Bob ließ sich von ihr überraschen. Sie zog ihn einfach ins Badezimmer, schloß es ab und kicherte mit einem Glucksen in der Stimme, das Bob später noch hundertfach hören sollte: »Der junge Herr fängt ja früh an. Na, na, was soll das denn?« Bob gab keine Antwort und ertastete die neue, vor ihm ausgebreitete Welt. Es war ein Erlebnis, das ihn formte.
    Mit zwölf Jahren lief er Schlittschuh auf einem halbzugefrorenen Teich, brach ein und wäre kläglich ertrunken, wenn ihn nicht Hellmut Hansen, sein Klassenkamerad, unter Einsatz seines Lebens in letzter Minute gerettet hätte. Onkel Theodor Haferkamp, der Bruder von Bobs Mutter und neuer Leiter der Barreis-Werke nach dem Tod des Firmenchefs, belobigte Hellmut Hansen, schenkte ihm eine Uhr aus Golddouble und zehn Mark in bar. Von da an war Hellmut der einzige Junge aus ›niedrigem Stand‹, der mit Bob spielen durfte. »Schade, daß sein Vater nur Dreher ist«, sagte Theo Haferkamp, nachdem er sich um die Familie des kleinen Lebensretters gekümmert hatte. »Wir werden ein gutes Werk tun und Hellmut eine anständige Ausbildung verschaffen. Ohne ihn hätten wir schließlich unseren Bob nicht mehr.«
    An seinem fünfzehnten Geburtstag, der mit einer großen Party gefeiert wurde, schlich Bob dem Hausmädchen Erna Zyschke in den Weinkeller nach, überfiel sie von hinten, drückte sie auf einen Kistenstapel, würgte sie, bis sich ihr Gesicht schrecklich verzerrte, verspürte eine angenehme Hitzewelle seinen Körper überfluten und vergewaltigte Erna zwischen leeren Rotweinflaschen. »Ich bringe dich wirklich um, wenn du einen Ton davon erzählst!« zischte er hinterher und legte seine Hände um Ernas Hals: »Außerdem würde es niemand glauben!«
    In der riesigen Halle der Villa und im Speiseraum dröhnte um diese Stunde Tanzmusik aus Stereoboxen.
    Bob wurde sechzehn Jahre und Opfer einer Angina.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher