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Zuckerleben: Roman (German Edition)

Zuckerleben: Roman (German Edition)

Titel: Zuckerleben: Roman (German Edition)
Autoren: Pyotr Magnus Nedov
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TOLYAN ANDREEWITSCH
    2011. IN DEN ABRUZZEN, ITALIEN
    Es ist Freitag, der 22.   Juli 2011. Das Begräbnis ist für Sonntag, den 24.   Juli angesetzt.
    Der erste Buchstabe: ein C . Ein C , gefolgt von einer kurzen Sequenz, die wie ein Code wirkt. Davor ein Adler, der seinen Kopf nach rechts verdreht hat, als wäre er bei der Morgengymnastik in einer unpassenden Pose von Fremden ertappt worden. Und als wollte er deswegen wegschauen. Der Vogel umklammert mit seiner linken Klaue ein Schwert, und in seiner rechten hält er krampfhaft ein schwer einzuordnendes Landwirtschaftsprodukt – entweder eine Feldfrucht oder einen Ährenzweig. Mit seinem Schnabel beißt er indes auf ein Kruzifix orthodoxer Art. Außerdem trägt der Adler ein Wappenschild auf seiner Brust; darauf ist der Kopf eines Auerochsen zu sehen, links davon ist ein Mond, rechts vom wilden Wiederkäuer eine strahlende Sonne und darunter ein Wiesenblümchen angebracht. Unter der Wappenkonstruktion und unter dem Greifvogel sind zwei Buchstaben unmissverständlich eingestanzt: MD . Dieses Kennzeichen gehört zu Tolyan Andreewitschs Ford-Transit-Minibus, der genau um 22.45   Uhr in den Abruzzen auftaucht.
    Einige eingewanderte albanische Grillen besingen leise, aber dafür konstant den italienischen Sommer. Aus dem Minibus, wo Klein-Putin in lockerem Rhythmus vom Rückspiegel baumelt, ertönen entspannende Klänge, die den Fahrer in einen halb bewussten Zustand zwischen geistigem Schlummer und Meditation versetzen. Klein-Putins Pappaugen blicken dem Automobilisten wachsam ins Gesicht. Letzterer trägt plüschige Hauslatschen und ein Hemd aus weichem Material, das leger auf den Hüften liegt. Die Visage des Fahrzeuglenkers ist angenehm – kleine Grübchen, deren sich zumeist Menschen erfreuen, die viel lachen, umrahmen seine Mundwinkel; eine weiße, keck in den Nacken gezogene Mütze verbirgt sein strohblondes, kurz geschnittenes Haar. Er wirkt wie ein alt gewordener Knabe, dem die durchlebten Jahre zwar unverkennbar ihre Spur aufgezwängt und sich gnadenlos wie Knüttelhiebe in Juchtenleder eingefurcht haben, dessen Lebensfreude sie jedoch nicht zu tilgen vermochten. Tolyan Andreewitsch lacht nicht. Vielmehr verzieht er sein Antlitz zu einem verkrampften Grinsen, bei dem ab und an ein goldener Zahn zum Vorschein kommt und ein wenig aufblitzt. So, als müsste er etwas Unerledigtes vollenden. Oder etwas sehr Kostbares, das er leichtsinnig verloren hat, wiederfinden.
    Tolyan Andreewitsch drückt aufs Gaspedal. Der Himmel ist tief mokkafarben und mit Sternen gespickt. Sie sausen strahlend um Tolyan Andreewitschs Ford-Transit-Minibus. Und dann. Dann passiert es. Just als Tolyan Andreewitsch überlegt, ob er gerade die Ursa Major am Firmament ausgemacht hat oder ob es doch ein anderes Sternbild war, und in eine scharfe Linkskurve einschwenkt, erscheinen auf der Fahrbahn zwei Gestalten. Tolyan Andreewitsch ist sich beinahe gewiss, dass es zwei Menschen sind, die da vor ihm auf dem Asphalt liegen. Den Bruchteil einer Sekunde zögert Tolyan Andreewitsch: Ob er sich das Ganze nicht nur einbildet und einfach weiterfahren soll? Doch dann entscheidet er sich gegen diese Theorie. Der Moldawier reißt das Lenkrad nach rechts, nimmt die rechte Plüsch-Hauslatsche vom Gaspedal weg und zieht die Handbremse an. Die Reifen des Ford Transits quietschen, Tolyan Andreewitsch flucht, während sich der Minibus mit Gedröhn zweimal um die eigene Achse dreht, wie eine Eiskunstläuferin, die Pirouetten auf dem Eis beschreibt. Klein-Putin ahmt die Bewegung des Ford Transits am Rückspiegel schamlos nach, und das selbst nachdem der Ford Transit im Bankett zum Stehen gekommen ist, eine Staubwolke aufwirbelnd. Tolyan Andreewitschs Schädel kommt indes unfreiwillig in turbulenten Kontakt mit dem Lenkrad und kracht gegen die Hartplastikverkleidung. Dem Moldawier gehen seine weiße Mütze verloren und die Lichter aus. Er kann zwar die meditative Musik in seinem Auto wie vom anderen Ende eines Tunnels hören. Zu sehen vermag er aber nichts mehr. Außer der Dunkelheit, die ihn gänzlich, einer flauschigen Decke gleich, umhüllt. Auch die Musik wird allmählich leiser und gedämpfter, bis sie gänzlich zu einem sich drehenden akustischen Rauschen mutiert. Es vergeht einige Zeit, in der Tolyan Andreewitsch sich diesem Rauschen zu entziehen versucht, was jedoch nicht von Erfolg gekrönt ist. Am Ende des Rauschens: gleißendes Licht. Der Moldawier versteht, dass er sich tatsächlich in so was wie
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