Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jenseits der Finsterbach-Brücke

Jenseits der Finsterbach-Brücke

Titel: Jenseits der Finsterbach-Brücke
Autoren: Antonia Michaelis
Vom Netzwerk:
kleine Schneeflocken durch mich. »Ich heiße Joern. Und woher kommst du?«
    »Vom Norderhof«, antwortete ich.
    Joern nickte. »Liegt der Norderhof im Sperrgebiet?«, fragte er.
    »Im Sperrgebiet?«, fragte ich zurück. »In welchem Sperrgebiet?«
    Joern zeigte auf die Mauer. Ich verrenkte mir den Kopf und sah, dass dort ein gelbes Schild hing.
    »Auf dem Schild steht, hinter der Mauer ist militärisches Sperrgebiet!«, rief er. »Aber vielleicht ist es gelogen.«
    »Es ist auf jeden Fall gelogen!«, erwiderte ich. »Komm doch rüber und sieh es dir an! Hier gibt es nur den Wald und den Norderhof und die Schafskoppeln und uns.«
    Joern schien zu überlegen. »Willst du das wirklich?«, rief er schließlich. »Dass ich rüberkomme?«
    Darüber brauchte ich nicht nachzudenken. Ich war viel zu neugierig. »Klar will ich!«, rief ich.
    Da nickte er. »Okay, dann komme ich.«
    Beinahe erwartete ich, dass er jetzt irgendetwas Unmögliches tun würde – Anlauf nehmen und über die Todesschlucht springen zum Beispiel oder auf das Fahrrad steigen, das drüben an einem Baum lehnte, und durch die Luft zu mir herüberfahren. Aber er tat nichts dergleichen. Er ging ein Stück am Rand der Schlucht entlang, verschwand zwischen den verkümmerten Tannen und schleifte gleich darauf einen dünnen Stamm hinter sich her.
    »Sie haben eine Menge Bäume gefällt!«, rief Joern. »Aber abgeholt hat sie noch niemand.«
    Damit kniete er sich an den Rand der Schlucht und begann den Stamm zu mir herüberzuschieben. Ich band mir Westwinds Zügel ums Handgelenk, für alle Fälle, und beugte mich weit vor, um den Tannenstamm entgegenzunehmen. Dem ersten Stamm folgten ein zweiter und ein dritter und so bauten wir an jenem Tag eine Brücke über den Finsterbach. Es dauerte eine ganze Weile und es war ein Glück, dass die Todesschlucht nicht breiter war, sonst hätten wir es nie geschafft. Ich zog die Enden der dünnen Stämme alle durch die Mauerlücke, wo sie sich fest ineinander verkeilten. Drüben am anderen Ufer lief Joern hin und her und holte neue Stämme heran. Der kleine Hund rannte begeistert um ihn herum und es war eine wahre Freude, den beiden zuzusehen.
    Ich vergaß den Kjerk und das tote Lamm und Herrn Marksenund das Mittagessen. Beinahe vergaß ich den ganzen Norderhof. Es gab nur die Brücke und uns, uns und die Brücke.
    Und schließlich stemmte Joern die Arme in die Seiten und sagte zufrieden: »So, nun sind wir wohl fertig mit unserer Brücke. Es hat kein einziger kleiner Stamm mehr in deiner Mauerlücke da drüben Platz. Und jetzt pass mal auf, Lasse vom Norderhof! Denn jetzt komme ich rüber.«
    Und er kam. Ich umklammerte Westwinds Zügel und sah zu, wie er über die Brücke balancierte. Er hatte den kleinen Hund auf den Arm genommen und setzte bedächtig einen Fuß vor den anderen.
    »Wenn er nur nicht hinunterfällt!«, flüsterte ich Westwind zu. »Wenn er nur nicht in den Finsterbach stürzt, der da unten entlangrauscht! Wenn nur die dünnen Stämme nicht brechen!«
    Die Todesschlucht war so tief und die Felsen dort unten so hart und unerbittlich. Ja, in dem Moment, in dem ich Joern zum allerersten Mal über die Finsterbachbrücke balancieren sah, wusste ich schon, dass niemand einen solchen Sturz überleben konnte.
    Aber die Stämme hielten. Joern setzte den Hund auf den Felsvorsprung und kletterte ihm nach. Danach kroch er durch das Loch in der Mauer. Wie mutig er ist!, dachte ich. So jemand Mutigen müsste man zum Freund haben. Da fiel mir etwas Wunderbares ein. Vielleicht war es möglich. Er könnte mein Freund werden, dieser Joern. Und dann stand er vor mir.
    Er war genauso groß wie ich, vielleicht etwas kräftiger. Seine Augen waren moosgrün und ich sah darin etwas, das ich oft im Spiegel in meinen eigenen Augen gesehen hatte: die Sehnsucht. Vielleicht brauchte auch Joern einen, mit dem er reden konnte.
    »So, Lasse vom Norderhof«, sagte er und streckte die Hand aus wie ein Erwachsener.
    »So, Joern aus der Schwarzen Stadt«, sagte ich und nahm seine Hand.
    Mehr sagten wir nicht. Es war nicht nötig. Wir ahnten beide, dass in diesem Augenblick etwas begonnen und etwas aufgehört hatte.
    Was aufgehört hatte, war das Alleinsein. Und was begonnen hatte, war ein Abenteuer. Abenteuerlicher als alle Bücher aus allen Leihbüchereien der Welt, dunkler als der Finsterbach und gefährlicher als die Todesschlucht. Aber das wussten wir damals noch nicht.

Niemand kommt über den Finsterbach
    I ch half Joern auf Westwinds
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher