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Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren

Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren

Titel: Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren
Autoren: Peter Handke
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»Und wieder wird es ernst!« sagte ich vorhin unwillkürlich zu mir selber, bevor ich mich auf den Weg zu dem Schreibtisch hier machte, wo ich jetzt sitze in der Absicht, mir über die Geschichte meines verschollenen Freundes, des Pilznarren, eine gewisse – oder eine eher ungewisse – Klarheit zu verschaffen. Und weiter sagte ich unwillkürlich zu mir selber: »Das darf doch nicht wahr sein! Daß es sogar ernst wird beim Angehen und Niederschreiben einer Sache, welche wohl ganz und gar nichts Weltbewegendes an oder in sich hat; einer Geschichte, zu welcher mir im Vorfeld (ein Wort, das einmal am Platz ist) dieses Versuchs der Titel eines jahrzehntealten italienischen Films in den Sinn kam, mit Ugo Tognazzi in der Titelrolle: Die Tragödie eines lächerlichen Mannes – nicht der Film selber, allein dieser Titel.«
    Dabei ist die Geschichte meines ehemaligen Freundes nicht einmal eine Tragödie, und ob er jemand Lächerlicher war oder ist: Schon das ist mir unklar, und wird und wird mir auch nicht klar; und wieder unwillkürlich sage und schreibe ich jetzt: »Möge das so bleiben!«
    Noch ein Film kam mir, bevor ich mich auf den Weg zu dem Schreibtisch hier machte, in den Sinn. Da war es freilich nicht der Titel, sondern eine der Anfangsszenen, wenn nicht überhaupt die Szene des Anfangs. Es handelte sich da – wieder einmal … – um einen Western, von – erraten – John Ford, und James Stewart sitzt am Anfang der Geschichte als der berühmte Sheriff Wyatt Earp, scheint’s lang lang nach seinen inzwischen legendären Tombstone-Abenteuern, müßig-träumerisch wie nur James Stewart auf der Veranda seines Sheriffbüros in der südlichen texanischen? Sonne und läßt, dem Anschein nach so friedlich wie entschieden, unter der Krempe seines halb über die Augen gezogenen Hutes nichts als die Zeit vergehen, beneidenswert und zugleich ansteckend. Dann aber, sonst wäre das ja keine Wildwestgeschichte, der Aufbruch ins neue Abenteuer, zu Beginn eher widerwillig und, erinnere ich mich recht?, verlockt nur vom Geld, und es geht da eher nord- als westwärts. In der Folge allerdings, und insbesondere am Ende der Geschichte: das selbstverständliche Eingreifen, die sanfte Aufmerksamkeit, die still helfende Geistesgegenwart, wie wieder einzig James Stewart sie ausgestrahlt hat und weiterhin ausstrahlt. Nicht nur »Two Rode Together«, frei nach dem Titel des Films, wo der zweite Reiter Richard Widmark ist: mehr Leute ritten am Ende zusammen, viele, wenn nicht (fast) alle. Warum mir gerade der Anfang dieses Films, mit dem ausgestreckten Beinpaar, in Stiefeln, des so ansteckend trägen, keinen Finger rührenden, den sogenannten Ordnungshüter selbstbewußt dem, ja, befreienden Lachen preisgebenden Sheriffs vor dem, ja, Aufbruch zum Schreibtisch gegenwärtig wurde?
    Ich saß da gerade selber so mit ausgestreckten Beinen, in Stiefeln. Allerdings war das auf keiner Veranda, und auch nicht im tiefen Süden, sondern im düsteren Norden, fern von Sonne und Sonne, die Beine auf der Fensterbank innen in einem jahrhundertealten Haus mit fast meterdicken Mauern und draußen die Schwaden des Spätherbstregens, und ein kalter Wind, der aus den schon durchsichtigen Buchenwäldern des Plateaus durch die Scheibenritzen strich, und die Stiefel waren Gummistiefel, ohne die kaum ein Gehen möglich, schon gar nicht querfeld- oder querwaldein, und diese Stiefel zog ich, als ich mich dann aufmachte zum Schreibtisch, ›aus‹, streifte sie ab draußen vor der Haustür, an einem Ding, das einmal »Stiefelknecht« hieß, in meinem Fall ein altertümliches Ding aus schweremEisen, in Gestalt einer überdimensionierten Schnecke, deren metallenes Fühlerpaar mir die Stiefel von den Fersen hobelte und hebelte, und dann mit ein paar Schritten hinein durch die nächste Tür in den Anbau, den kleinen Schuppen, den »Annex«, wie ich ihn nenne, hier an den Tisch zum Schreiben.
    Wie das? Die paar Schritte hinaus und hinein an den Schreibtisch ein »Weg«? Ein »Sich-auf-den-Weg-Machen«? Ein »Aufbruch«? So kam es mir vor. So habe ich es erlebt. So war es. Und inzwischen dämmert es schon novemberlich unten in der Ebene, die sich vom Fuß des Plateaus, an dessen Steilkante ich sitze, zu den großen Horizonten noch weiter nordwärts zieht, und die Lampe auf dem Tisch ist eingeschaltet. »Soll es doch ernst werden.«
    Ein Pilznarr war mein Freund schon sehr früh, wenn auch in einem anderen Sinn als in seinen späteren oder gar späten Jahren.Erst da, gegen
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