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Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren

Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren

Titel: Reihe der Versuche 05 - Versuch über den Pilznarren
Autoren: Peter Handke
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das Alter hin, kam über ihn als den Narren eine Geschichte in Betracht. Geschichten über Pilznarren sind ja nicht wenige geschrieben worden, in der Regel, oder sogar ausnahmslos?, von den Narren persönlich, die von sich als »Jäger« oder jedenfalls als Aufspürer, Sammler und Naturforscher reden. Daß es überhaupt nicht nur die Pilzliteratur, die Pilzbücher, gibt, sondern eine Literatur, wo einer von den Pilzen im Zusammenhang mit seiner eigenen Existenz erzählt, scheint erst in neuerer Zeit, vielleicht überhaupt erst nach den zwei Weltkriegen des vergangenen Jahrhunderts, so recht der Fall geworden zu sein. In der Weltliteratur des neunzehnten Jahrhunderts spielen die Pilze in kaum einem Buch mit, und wenn, dann klein, im Vorbeigehen, und ohne Verhältnis zu gleichwelchem Helden, stehen eher für sich allein, wie etwa bei den Russen, Dostojewski, Tschechow.
    Eine einzige Geschichte ist mir im Sinn, wo jemand, wenn auch bloß für eine Episode, in die Pilzwelt verwickelt wird, ohne sein Zutun, ja gegen seinen Willen, und das geschieht im Roman Far from the Madding Crowd von Thomas Hardy – England, spätes neunzehntes Jahrhundert – der schönen jungen Heldin, die sich nachts auf dem Land irgendwo verirrt, in eine Grube voll mit riesigen Pilzen rutscht und dort, umzingelt von den unheimlichen Gebilden, die zusehends zu wachsen und sich zu vermehren scheinen, bis zum Morgengrauen in der Pilzgrube gefangen bleibt (so jedenfalls meine ferne Erinnerung).
    Und jetzt, in der ganz neuen, in, wie sagt man?, »unserer« Zeit häufen sich anscheinend die Erzählwerke, worin die Pilze eher ihrer Rolle in den Phantasmagorien der Allgemeinheit nachkommen, entweder als Mordwerkzeuge oder als Mittel zur, wie sagt man?, »Bewußtseinserweiterung«.
    Nichts von dem allen, weder der Pilzjäger als Held, noch als der Träumer vom vollkommenen Mord, noch als der Vorläufer eines anderen Ich-Bewußtseins, soll in dem »Versuch über den Pilznarren« erzählt werden. Oder, in Ansätzen, vielleicht doch? So oder so: Eine Geschichte wie die seinige, wie die sich ereignet hat, und wie ich sie, zeitweise aus nächster Nähe, miterlebt habe, ist jedenfalls noch keinmal aufgeschrieben worden.
    Sie hat begonnen mit dem Geld, vor langer Zeit, als der zukünftige Pilznarr noch ein Kind war, begonnen mit dem Geld, auf welches das Kind bis in den Schlaf hinein aus war, wo nachtlang auf allen Wegen die Münzen glänzten, die dann keine waren, begonnen mit dem Geld, das ihm, ob in der Nacht oder am Tag, fehlte, und wie. Daß er tagsüber, wo er ging oder stand, den Kopf so hängen ließ, hieß allein: er äugte zu seinen Füßen nach einer Wertsache, wennnicht nach einem verlorenen Schatz. Warum er in der Tat nie Geld hatte, höchstens dann und wann eine Kleinstmünze, mit der nichts, aber schon gar nichts anzufangen war, und auch zuhause kaum je ein Geld, schon gar keine Scheine, zu Gesicht bekam, das tut hier nichts zur Sache. Wie konnte er bloß zu Geld kommen? Und er war dabei nicht einmal habgierig – gierig, es bei sich zu haben –: hätte er es eines Tages, würde er sich auf der Stelle auf den Weg machen und es ausgeben, er wußte schon, lange schon, wo und wofür.
    Wie es sich traf, wurde in der Nähe des Dorfs, wo er aufwuchs, eine »Pilzsammelstelle« eingerichtet. Es war das die Periode nach dem Zweiten Weltkrieg, da der Handel und die Märkte im allgemeinen auf eine neuartige, eine im Vergleich zur Zwischenkriegszeit verwandelte Art wiederauflebten, und im besonderen der Handel und Austausch zwischen den ländlichenGegenden und den größeren Städten, deren Bewohner frisch auf den Geschmack für noch nie Gekostetes (und nicht bloß importiert aus den Tropen oder sonstwoher) kamen, und im ganz Besonderen der Handel mit den Waldpilzen, den, anders als die »Champignons«, weder in Kellern noch Bergstollen züchtbaren, sondern wilden, jeweils aufzustöbernden, was mit dazu beitragen konnte, zumindest fern in den Städten, zum Geschmack von etwas Seltenem, einer Delikatesse.
    Jene Pilzsammelstelle, wo die Funde der ganzen, ziemlich waldigen Gegend gegen Bezahlung hingeliefert werden konnten und von wo sie in einem gehäuft vollen Lastwagen in die Stadt weitergeliefert wurden, jenes Sammelhaus war es, welches das geldversessene Kind seinerzeit auf die Sprünge brachte. In die Natur war der spätere Pilznarr zuvor eher für nichts und wieder nichts aufgebrochen. Nichts und wieder nichts:Das war in der Regel das bloße Rauschen,
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